KLEINE BRÖTCHEN

“2017”*, Folge 16, 3. Oktober. Berlin, Grau in Grau

Der Bus setzt sich in Bewegung. Vater und Mutter stehen verloren an der Haltestelle Kanonenstraße und winken. Edmund ist froh, als man sich nicht mehr sehen kann. Er sieht zum Fenster hinaus, rechts zweigt die Hochtaunusstraße am Sandplacken ab und führt zum Feldberg. Der Bus nimmt Anlauf auf Oberursel.

Es ist Edmunds erste wichtige Fahrt. Weg vom Forsthaus Hegewiese, hinaus in die Welt.

Da will er was machen. Er weiß nicht, was das sein wird, aber er ist sicher, dass sie da auf ihn warten.

Zuerst wohnt er bei einem Onkel. Reißt seine Lehre ab, wird ein passabler Bäcker, aber er mag die Arbeit nicht. Das Beste dran ist, das ser sich jetzt eine eigene Butze leisten kann.

Morgens um halb vier ins Bad getapst. Mit verquollenen Augen zur Arbeit radeln. Kneten, formen, rein in den Ofen, raus aus dem Ofen. Ware ausfahren. Mittags schon fertig mit der Welt. Im Sommer abends noch an den Baggersee. Im Winter kein Tageslicht auf der Haut. Die Kollegen haben nur die Eintracht und das Wochenend-Saufen im Sinn, die Älteren reden über Kinder und Kredite.

Das kann es nicht sein.

Edmund holt das Abi abends nach. Er arbeitet jetzt in einer Brotfabrik. Sieht kaum das Tageslicht, radelt mit müdem Gesicht zur Schule, manchmal schläft er über den Büchern ein.

Deutsch mag er nicht. Geschichte ist okay. Mit den Fremdsprachen hat er es nicht. Dafür tut er sich leicht mit Mathe und Physik. Als er das Abi bekommt, landet er mit einer Mitschülerin im Bett.

Am nächsten Morgen sieht sie ihn von der Seite an – sie ist ziemlich schön, hat viele Sommersprossen und rötliches seidiges Haar -, glücklich ist sie, sie sagt, was das doch für ein schöner Tag sei, jetzt könne man, mit dem Abi in der Tasche und der neuen Liebe und so, wunderbar planen.

Eigentlich will er das nicht hören. Er will nichts planen. Ist nun seit sechs Jahren in dieser Stadt, von der er sich soviel versprochen hat, und er fühlt sich wie festgepflockt. Fast 24 ist er und schon so alt.

So war es nicht vorgesehen.

“Du, wir könnten heiraten.”

Er erschrickt. Er müsse mal, sagt er. Als er das Zimmer quert, bedeckt er sein Geschlecht mit dem Unterhemd.

Eine halbe Stunde später steht er auf der Straße und ist erleichtert. Oben im Zimmer weint das Mädchen.

 

Edmund reist jetzt. Er kommt nach Paris und nach Wien. In München trinkt er auf dem Oktoberfest soviel Bier, dass er auf dem Hauptbahnhof den Zug zurück nach Frankfurt verpennt. Edmund fliegt das erste Mal. Er kommt sich sehr weltmännisch vor, als er die Maschine nach London besteigt.

Und dann ist da noch Berlin. Beim Ebbelwoi in Sachsenhausen lernt er Charly kennen. Der lebt in Berlin und wird die Spedition des Vaters übernehmen.

Man mag sich. Edmund besucht Charly in Kreuzberg. Er fühlt sich frei und jung. Sie ziehen durch den Kiez und lachen alle Bürger aus.

“Du, komm nach Berlin”, sagt Charly. “Kannst bei uns in der Firma arbeiten. So einen wie Dich brauchen wir. Zusammen machen wir ein dolles Fass auf, das ist doch klar.”

Edmund siedelt um. Was ihm gehört, passt in zwei Koffer.

Was ihm auch gehört: die Zukunft.

 

*“2017“ beginnt in der Kalenderwoche 38 des Jahres 2017 und endet am 31. Dezember. Thema: 105 Tage Deutschland. Unterwegs in der „Heimat“.