GELLENDER TOD

berlin, 22. mai 2015

Der Berliner Fotograf Martin U.K.. Lengemann hat mit der “Narbe” ein ehrgeiziges Projekt angeschoben. Er will mit Veranstaltungen, Veröffentlichungen, Auftritten und einer ambitionierten Homepage an den Ersten Weltkrieg erinnern. Auslöser sind unter anderem die vielen Reisen, die Lengemann zu den Schlachtfeldern im Westen unternommen hat. 2010 ging Lengemann mit der “Narbe” zum ersten Mal an die Öffentlichkeit. “Jetzt”, sagt er, “spüre ich, dass sich das Engagement auszahlt.”

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August Stramm, “Patrouille”:

Die Steine feinden
Fenster grinst Verrat
Äste würgen
Berge Sträucher blättern raschlig
Gellen
Tod.

Lengemann:

Kilomètre Zéro, Front de l’Este, südlichster Punkt der Westfront.  Zwischen Pfetterhausen und Moos im Elsass berührte die Front die Grenze zur Schweiz. Der Bach La Largues teilt den Wald vor Moos. Am westlichen Rand, hinter den ersten Bäumen, stehen die deutschen Bunker. Hier erlebte André Dubail am 7. August 1914 das erste Gefecht „kilomètre zero“.

„Eine Schwadron Dragoner und ein Zug Radfahrer als Flankensicherung stieß von Réchésy gegen Pfetterhausen – Moos – Bisel vor. Die Vorhut von zwei Patrouillen zu je 16 Reitern attackierte um 07.20 Uhr die deutschen Posten auf dem Gerschwillerboden, ein Kilometer westlich von Pfetterhausen. Der Schusswechsel alarmierte die deutsche Besatzung, etwa 110 Mann, unter Kommando von zwei Leutnants, welche südwestlich des Friedhofs bei der Barrikade an der Straße nach Réchésy in Stellung ging. Beim Gefecht wurden vier französische Dragoner getötet.“

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Karl Kraus, „Die letzten Tage der Menschheit“; bei Verdun:

Oberst Meurtrier: Wie? So wenig Gefangene? Zwanzig? Ich glaubte, daß Sie eine ganze Kompagnie haben!

de Massacré: Ich hatte sie. Aber die übrigen sind da unten im Schützengraben verreckt. Ich habe meinen Leuten den Befehl erteilt, 180 mit dem Bajonett niederzumachen. Die braven Jungen zögerten wohl, aber ich stellte ihnen kurzen Prozeß in Aussicht und da gings mit Halsabschneiden und Bauchaufschlitzen.

Meurtrier (ungehalten): 180? Das ist zu viel! Das wäre selbst dem General zu viel! Ich rate Ihnen, über diese Sache nicht zu sprechen, wenn Sie nicht riskieren wollen, aus der Liste der Ehrenlegion gestrichen zu werden.

de Massacré (selbstbewußt): Ich glaube im Gegenteil, Herr Oberst, daß ich in einigen Tagen das Kreuz der Ehrenlegion tragen werde! Und dann bekomme ich das Regiment von Korsika. Meine Taten eröffnen mir die Bahn und mein Ziel soll der Ausgangspunkt der gloire sein.

 Lengemann:

Eine halbe Autostunde weiter nördlich: der Hartmannsweilerkopf, der Hausberg des Ortes Hartmannsweiler. Die Soldaten beider Seiten nannten ihn den Menschenfresser. 956 Meter über dem Meer gelegen, wird das Schlachtfeld als der militärisch wertloseste Aussichtspunkt der Front beschrieben. Im Inneren hohl wie ein kariöser Zahn, von Hunderten Stollen durchzogen, befinden sich auf der Oberfläche unzählige Schützengräben und Bunker. Jährlich zieht der Berg 200.000 Besucher an, die sich am schönen Schauer des Grauens laben. Die Kuppe wechselte während des Krieges mehrmals den Besitzer. Zwischen Dezember 1914 und Sommer 1916 starben hier 30.000 Soldaten.

Grabenkarte

Ein Frontverlauf wie ein Strickmuster. Die “Hölle” in Zahlen und Namen und Strichen… FOTOS: LENGEMANN

Es geht weiter, entlang der Front Richtung Nancy, nach Verdun. Zwischen 1914 und 1918 explodierten hier auf dem Schlachtfeld etwa 50 Millionen Artilleriegranaten. Insgesamt wurden von beiden Seiten 2,5 Millionen Soldaten eingesetzt. Wie viele insgesamt fielen, lässt sich heute nicht mehr sagen. Zu viel wurde gefälscht, beschönigt. Nach Berechnungen des britischen Historikers Niall Ferguson belief sich die Zahl der Toten während der Kriegshandlungen auf etwa 6000 pro Tag und die Zahl der Getöteten insgesamt auf circa 350.000 Menschen. Hier bewegte sich die Front in vier Jahren nur um ein paar Meter.

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Der französische Hauptmann Augustin Cochin, französischer Hauptmann, in seinen Erinnerungen an die Stellung “Toter Mann”:

“Die letzten zwei Tage in eisigem Schlamm, unter furchtbarem Artilleriefeuer, mit keiner anderen Deckung als der Enge des Grabens. Natürlich hat der Boche nicht angegriffen, das wäre auch zu dumm gewesen… Ergebnis: Ich bin hier mit 175 Mann angekommen und mit 34 zurückgekehrt, von denen einige halb verrückt geworden sind… Sie antworteten nicht mehr, wenn ich sie ansprach.”

Lengemann:

Sie nannten die Gegend die „Hölle“. Auf Freiflächen und in den Wäldern Schützengraben an Schützengraben. Nur unterbrochen von den millionenfachen Einschlägen der Granaten. Hier gibt es eine „zone rouge“, verbotenes Terrain. Noch immer liegen unzählige Blindgänger in der Natur.

Westlich von Douaumont, Toter Mann und Höhe 304 liegt Vauquois. Ein Berg, der auch noch zum Schlachtfeld Verdun gehört. Eigentlich war es mal ein Berg. Auf dem Gipfel stand bis 1914 das Rathaus des kleinen Ortes. Das Dorf schmiegte sich an den Hang. Französische und deutsche Pioniere haben den Berg durchlöchert und mit Dynamit gefüllt. Dann haben sie sich gegenseitig in die Luft gesprengt, den Berg mehrfach geteilt, sind dann auf die neu entstandenen Gipfel hinaufgestiegen und haben sich weiter bekämpft. Als das keinen Erfolg brachte, hat man wieder gegraben.

Die Stollen und Gräben sind bis heute erhalten. Man versucht, das Tunnelsystem zu sichern, damit nicht alles in sich zusammenstürzt. 536 Sprengungen musste der Berg über sich ergehen lassen.

Butterworth-Thiepval

In Stein gemeißelte Leben. Auch das des jungen Komponisten Butterworth. Der Rest ist Stille.

Vom Dorf Vauquois blieben nicht einmal die Kellerfundamente übrig. Da der Boden vollkommen von Munitionsresten und Leichen verseucht war, wurde der überlebenden Bevölkerung eine Rückkehr verweigert. Eine kleine Gruppe beschloss, unterhalb des Berges ein neues Vauquois zu errichten. Heute leben hier 23 Menschen.

 Morgen: Es nimmt kein Ende