DAS GROSSE MORDEN

berlin, 23. mai 2015

“Die Narbe” heißt das Berliner Projekt. Es erinnert daran, wie der Erste Weltkrieg an der Westfront gewütet hat. Unter Anderem wird die fast vergessene Geschichte eines jungen genialen englischen Komponisten aufgerollt, der in einen Krieg ziehen musste, der der Tod aller Schöngeistigkeit war.

“George Sainton Kaye Butterworth, geboren am 12. Juli 1885, galt in England als das größte musikalische Talent seiner Generation. Jeder, der sich mal zu Klassik Radio verirrt hat, kennt seine Orchesterstücke ,The Banks of Green Willow’ und ,A Shropshire Lad’.

Butterworth hatte sich gleich zu Beginn des Krieges freiwillig an die Front gemeldet. Er war 29 Jahre alt, als er, am Vorabend seiner Abreise nach Frankreich, den größten Teil seiner Kompositionen im Kamin verbrannte. Er wollte, sollte er nicht überleben, nur mit Stücken in Erinnerung bleiben, von denen er wirklich überzeugt war. 19 Werke hielten seinem Urteil stand. Der Rest ging in Flammen auf.

Westfront-ml008

Für immer ein Graben.

 

Butterworth war ein guter Soldat. Er bekam exzellente Beurteilungen von seinen Vorgesetzten und wurde bald zum Offizier befördert. Bei seinen Untergebenen war er äußerst beliebt. In Pozières an der Somme war die Front erbittert umkämpft. Mal gewann die eine Seite ein paar Gräben, mal die andere. Die Verluste waren außergewöhnlich.

Am 16. und 17. Juli 1916 nahmen Leutnant Butterworth und seine Männer eine Reihe von Schützengräben ein. George Butterworth wurde bei dieser Aktion leicht verletzt. Wegen besonderer Tapferkeit wurde ihm das Military Cross zugesprochen.

Am 4. August bekam seine Einheit den Auftrag, den wichtigen Verbindungsgraben Munster Alley zurückzuerobern, den die Deutschen seit ein paar Tagen besetzt hielten. Seine Soldaten gruben einen Annäherungsgraben Richtung Munster Alley und nannten diesen Butterworth Trench, um ihren Anführer zu ehren.

Die Schlacht an der Somme erreichte an diesem Tag ihren absoluten Höhepunkt. Obwohl unter Beschuss der eigenen Artillerie liegend und unter schweren Verlusten, gelang die Rückeroberung. Um 4.45 Uhr am Morgen des 5. August schlugen die Deutschen zurück. George Butterworth wurde von einem deutschen Scharfschützen tödlich im Kopf getroffen.

Hastig begruben ihn seine Männer noch im Graben. In den heftigen Bombardements der folgenden zwei Jahre wurde das Grabensystem bei Pozières vollkommen zerstört. Butterworths Leiche wurde niemals gefunden. Der Bürgermeister von Pozières hat vor ein paar Jahren veranlasst, dass ein Straßenstummel hinter seinem Haus in Butterworth Road benannt wird.”

Das schreibt Martin U.K. Lengemann über einen  jungen Komponisten, der vor einer großen Laufbahn stand. Für das Projekt “Die Narbe” hat der Berliner Journalist und Fotograf die spärlichen Informationen über den genialen britischen Musiker zusammen getragen. Einige der Werke von Butterworth sind vom Horenstein Ensemble zusammen mit der Sopranistin Barbara Krieger auf der CD „Verlorene Generation/Lost Generation/Generation Perdue“ eingespielt worden.

xxx

“Unter tausend Braven trifft eine Kugel einen Unersetzlichen.” Das Zitat beschreibt nicht den Tod des George Butterworth. Franz Marc hat das im Nachruf auf seinen bereits in den ersten Kriegswochen gefallenen Malerfreund August Macke geschrieben. “Mit seinem Tode wird der Kultur eines Volkes eine Hand abgeschlagen, ein Auge blind gemacht… Der gierige Krieg ist um einen Heldentod reicher, aber die deutsche Kunst um einen Helden ärmer geworden.” Anderthalb Jahre später war auch Marc tot, am Nachmittag des 4. März 1916 vor Verdun von einem Splitter in den Kopf getroffen. 

xxx

Otto Braun kam am 27. Juni 1897 in Berlin zur Welt. Als junger Mann hatte er lange wallende Haare und sah sehr verletzlich aus. Der Sohn der Frauenrechtlerin Lily Braun und des sozialdemokratischen Publizisten Heinrich Braun besuchte von 1907 bis 1908 die freie Schulgemeinde Wickersdorf. Seine Eltern und Lehrer wussten, wie hochbegabt er war. Auf die Schnelle lernte der Junge schon mal Altgriechisch, wenn ihm danach war. Außerdem schrieb er wie ein Besessener.

Westfront-ml004

Die Kluft im Kontinent. FOTOS: LENGEMANN

Am 8. Dezember 1909 beantragte der Professor Josef Petzold, Verfasser der Schrift Sonderschulen für hervorragend Befähigte, beim Königlichen Ministerium für geistliche, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten vom Unterrichtsdienst teilweise befreit und mit dem Unterricht des damals zwölfjährigen Schülers betraut zu werden. Petzold habe sich durch mehrstündige Gespräche und genaues Lesen mehrerer Arbeiten Brauns persönlich davon überzeugt, „dass seine Begabung in keiner Hinsicht überschätzt wurde.”

1914 meldete er sich 17-jährig freiwillig zum Kriegsdienst und wurde zunächst im Osten eingesetzt. Nach einer Verwundung 1916 war er im Auswärtigen Amt tätig. Nach der Heilung ging er wieder an die Front in Frankreich, wo er 29. April 1918 bei Marcelcave an der Somme durch einen Granattreffer starb.

Zu Lebzeiten wurde nur ein Gedicht, ohne sein Wissen und Einverständnis, in einer Zeitschrift veröffentlicht. Doch die Kenner wussten: Er hatte das Zeug, der Größte zu werden. Carl Zuckmayer nannte ihn “eine Art von literarisch-intellektuellem Wunderkind”, Alfred Polgar und André Gide hörten nicht mehr auf zu schwärmen – und der immer kritische Thomas Mann erklärte, er stehe demütig vor der Brillanz des jungen Talents.

xxx

Lyriker waren sie, “Blaue Reiter” und Kubisten, Komponisten, Dramatiker, Shakespeare-Forscher. Sie hießen Gustav Sack, August Stramm, Alfred Lichtenstein, Ernst Wilhelm Lotz, Isaac Rosenberg, Charles Péguy, Ernst Stadler…

Einer von ihnen, Alfred Lichtenstein, schrieb: “Überall stinkt es nach Leichen. / Es beginnt das große Morden.”

Da war er 23. Eineinhalb Jahre später war er tot. Und der Krieg dauerte und dauerte.