FLUCHTEN

sommer zwanzichfuffzehn XXXIX
 
Am Mittwoch war kein Markt. Sabrina schlief. Hans Krohn rollte sich behutsam über die Bettkante und zog sich im Bad an. Als er die Tür zum Flur öffnete, murmelt sie “Was?”. Er ging noch einmal zum Bett, strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn und flüsterte, sie solle weiter schlafen, er hole nur die Zeitungen. Sie drehte sich um, murmelte, sie liebe ihn – und begann, ganz leise zu schnarchen.
Krohn musste zum Zeitungsladen nur um die Ecke gehen. Altes, herunter gekommenes Geschäft, draußen die Lotto-Werbung, das Schaufenster war mit vergilbten Magazinen und leeren Weinflaschen ausgelegt.
Drinnen roch es nach Zigarillo, Kaffee, Schweiß und Bier. Das alles kam aus dem Nebenraum, in dem ein Küchentisch und sechs Stühle standen. Dort waren immer Menschen, die tranken und palaverten. Die kein Tageslicht mochten und bei denen sich Tag und Nacht ohnehin schon zur Unkenntlichkeit verschoben hatten.
Hans Krohn stand mit den Zeitungen vor der Kasse und wartete auf die Besitzerin. Sie füllte bei den Herrschaften nach.
War nicht ganz klar, ob die von der letzten Nacht übrig waren oder ob sie sich gerade in den Tag hinein tranken.
Sie hatten es mit der Politik. Diese Flüchtlinge machten ihnen Sorgen. Einer – er hatte mal ein Elektrogeschäft gehabt, nun war nichts mehr übrig – erklärte die Lage der Nation:
“Das machen die sich leicht mit ihrer Scheiß-Betroffenheit. Jetzt stehen sie da an den Bahnhöfen rum und klatschen – als ob  diese Syrer und wasauchimmer Fußballstars wären. Für unser Geld werden die untergebracht und kriegen ihre 143  Euro Taschengeld und das Essen und die Kleidung und die Ärzte. Was das kostet!
Und es werden immer mehr. Das geht nicht gut aus. Aber wie führen wir uns auf? Wir tun wie Mutter Teresa.
Ich sag’ Euch, da mache ich nicht mit.
Und Ihr werdet an mich denken. Die rutschen doch alle in unser Hartz IV, die Scheiß-Muslim-Assis.”
Er trank auf ex.
Krohn zahlte, er fühlte sich nicht gut. Trank auf dem Rückweg einen Kaffee, das Mulmige im Denken blieb. Er würde heute mit Sabrina nach Berlin fahren und ins Museum fahren, vielleicht gingen sie noch ins Kino. Kuchen im “Einstein”, romantische Zugfahrt zurück zum Hotel, lange Liebe.
Das würden sie machen.
Machten sie aber nicht. Krohn kam zurück ins Hotel. Er legte sich hinter Sabrina ins Bett und weinte. Irgendwie war heute nicht der Tag, der sich lohnte.
Abends brachte er die Geschichte vom Bruder der Schlagersängerin Sabrina zu Ende. War ja nicht mehr viel zu berichten – nachdem man den Star zu Grab getragen hatte.
Der Bauunternehmer stöberte schließlich Rominas Bruder auf. „Komm’, ich zahl’ Dir ’n Kaffee – hier kann man ja nicht reden.“ In der Kneipe sagte der Mann, so könne das nicht weiter gehen: „Das hätte Romina nicht gewollt. Dass Du so am Arsch bist. Nee, das geht gar nicht. Du kommst zu mir.
Seitdem wohnte Udo Krawittke, der mal eine Villa am Schlachtensee geführt hatte, im Gerätewagen eines Berliner Bauunternehmers mit ’ner doll-romantischen Ader. Krawittke hatte einen gut ziehenden Bollerofen, einen Stromanschluss und eine Netzverbindung für seinen Computer. Ab und zu erledigte er für den Wohltäter Dinge in der Buchhaltung, zum Leben brauchte er nicht viel – und die schmalen Bezüge besserte er auf der Rennbahn auf.
Krawittke bastelte viermal im Jahr eine kleine Broschüre für den Romina-Fanclub. Er gab auch einmal am Jahrestag ihres Todes ein Interview in einem bunten Magazin. Der Fotograf knipste Krawittke („Nu, Udo, gucken’Se ma richtich traurich!“) am Grab der Schwester, über der Geschichte stand „Rominas Bruder klagt an: Die Liebe ihres Lebens hat sie unter die Erde gebracht“. Prompt hatte Udo eine Anzeige von Mike auf dem Hals. Die Anwälte des Bauunternehmers regelten das aber ziemlich schnell.
Es gab keinen Tag ohne das Unglücklich-Sein. Am wohlsten fühlte sich Krawittke noch in der Nähe der Pferde. Oft trieb er sich schon morgens bei den Ställen an der Rennbahn herum. Sie kannten ihn dort, ließen ihn mit anpacken. Das tat Krawittke gut, er fühlte sich gebraucht. Wenn er dann wieder in seinem Bauwagen saß, lächelte ihn von der Wand Romina an – und da war es dann wieder, dieses Unglücklich-Sein.
Hoffnung?
Worauf, bitteschön?
Für ihn gab es keine Hoffnung.
Der Sieger des letzten Rennens, ein wuchtiger Brauner, gebärdete sich wild.
Krawittke kannte das Pferd gut. Was macht denn der Pfleger da? Dachte sich Krawittke, der bringt das Tier ja völlig auf die Palme. Keine Ahnung hatte der junge Mann, wie man mit dem bockigen Hengst umgehen musste. Naja, das sollte nicht Krawittkes Sorge sein.
Er trank das Bier aus, schlüpfte in den Anorak und verließ das Restaurant. Fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss, trat ins Freie.
Es regnete immer noch. Gut, dass er eine Mütze dabei hatte. Er zog sie tief in die Stirn und ging am Fahnenmast-Geklapper vorbei in Richtung Teltowkanal.
Das war ein ganz schönes Stück Weg, aber Udo wollte sein Geld nicht fürs Busfahren verplempern. Auch wenn er heute groß kassiert hatte, war das noch lang kein Grund, mit der Knete um sich zu schmeißen.
Er hieß doch nicht Mike.
Außerdem tat ihm die frische Luft gut. Er hatte zuviel getrunken, wenn das mal am nächsten Tag kein Kopfweh gäbe. Udo vertrug Alkohol nicht gut – und wenn er ehrlich war, schmeckte ihm das Zeug gar nicht so dolle.
Um diese Zeit, es ging auf elf zu, waren kaum noch Menschen in den Straßen. In den Häusern wurden Lichter gelöscht. Udo fühlte sein Allein-Sein sehr, und das war ihm unangenehm.
Er konnte den bedrückenden Gedanken nicht ausweichen.
Das war also geblieben:
Gnadenbrot bei einem Verehrer seiner toten Schwester. Ein Computer als Verbindung zu den Menschen. Jeden Montag Renntag. Zweimal in der Woche beim Aldi. Donnerstags der Besuch von Rominas Grab. Ab und zu ein kleiner Buchhalter-Job für den Wohltäter. Frühstück um halb acht. Mittags was auf die Hand. Abends um halb sieben etwas Warmes, Ravioli aus der Dose oder so. Fernsehen, immer, den ganzen Tag. Um halb zwölf zu Bett.
Zu Weihnachten ein kleines Bäumchen auf dem Tisch. Seit ein paar Monaten eine Mail-Freundschaft mit einer Romina-Bewunderin aus dem Odenwald.
Udo Krawittke hörte nicht mehr sehr gut. Dafür hatte er Augen wie ein Adler. Er konnte sich gut Dinge und Namen merken. Auf den Blutdruck sollte er Acht geben. Er hatte immer noch viel Kraft in den Muskeln, seine Verdauung machte ihm Freude. Beim Arzt war er seit Jahren nicht mehr gewesen, an die letzte Grippe konnte er sich gar nicht entsinnen. Er war ein recht gesunder Mann. Wenn er so weiter machte, würde er wohl 80 oder 90 werden.
Da hatte er noch einen langen Weg vor sich.
Es machte keinen Spaß, sich die Zukunft auszumalen. Udo Krawittke war fast ganz unten angekommen, und da musste er es sich nun für den Rest der Zeit einrichten.
Nichts zu ändern.
Jedenfalls nicht für einen wie ihn. Er musste seine Tage ableben. Zum Verkürzen fehlte ihm der Mut.
Ein Regenschauer fuhr dem Mann in der Nacht ins Gesicht.
Er dachte: Ich muss jetzt vor allem auf eines aufpassen. Dass ich immer die Raten fürs Grab pünktlich zahle.
Herr Krawittke hatte sich nämlich einen Platz an der Seite seiner Schwester reserviert. Wenn es so weit wäre, sollten sie ihn gefälligst neben ihr runter lassen. Wenn er es recht bedachte:
Das mit dem Grab war das Wichtigste in seinem Leben.
Echt.