EIN GANZ GROSSER

berlin, 8. mai 2015

DER muss es gewesen sein. Es gibt auf dem gesamten Adenasuerplatz keinen Spatz, der sich so dreist aufführt wie DIESER. Mit den Artgenossen zankt ER sich so lange um jede Krume, bis die Anderen entnervt hinfort fleuchen. ER bleibt hocken und pickt triumphierend auf die Beute ein. Und ganz sicher ist ER es gewesen, der sich unlängst bis auf den Kaffeehaustisch vorgewagt hat, neben der Tasse aufbaute und links und rechts äugte, ob da nicht Kuchen oder etwas ähnlich Schönes zu holen war.

An diesem 8. Mai geht der Blick über die Betonlandschaft des Adenauerplatzes – und bleibt hängen an einem selbstbewussten, fressgerundeten Spatzenmann, der sich vor einer Bank aufgebaut hat und einem Wohnsitzlosen beim Trinken zusieht. Das Tier weiß: Gleich wird der Mensch in die raschelnde Tüte greifen, mit zitternden Fingern etwas heraus holen, das Etwas wird krümeln, der Spatz wird es sich holen – und es wird vermutlich guter Stoff sein.

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Das Leben: Fressen und… fressen

Die Penner tragen meist wundervolle Krümel-Dinge mit sich rum.

Warum gerade jetzt ER in den Fokus des Kffeehausbesuchers gerät?

Nun, es ist “Stunde der Gartenvögel”. Mit der Aktion, die vom 8. bis zum 10. Mai läuft, will der Landesbund für Vogelschutz Erkenntnisse über Lebensräume und das Verhalten der Vögel in sich verändernden Umständen gewinnen. Wer mitmachen will, setzt sich 60 Minuten lang in den Garten, auf den Balkon oder in einen Park und zählt alle Vögel, die er beobachtet.

Oder er beschäftigt sich ein Weilchen mit IHM, dem Adenauer-Spatz.

Wieder hat ER einen Winter klagevoll tschilpend überdauert. jetzt kontrolliert ER – mit 60 Sachen sturzfliegend, zeternd und zoffend, balzend und staub-badend, das Revier zwischen Back-Discounter am Ku’damnm und Sex-Supermarkt an der Lewishamstraße.

Die Künstlerin Mascha Kaleko ist nach langer Zeit im Exil mit ängstlichen Gefühlen nach Berlin zurück gekehrt. Sie wollte nicht in der Stadt bleiben, dazu waren die Verletzungen zu groß. Sie wollte nur wissen, wie es so war in der Heimat.

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Der Sinn des Ganzen: Geile Sturzflüge, flotte Spätzinnen.

Da war sie nun. „Ein sehr merkwürdiges Erlebnis“ sei es, schreibt sie ihrem in New York wartenden Mann Chemjo Vinaver – seinetwegen wird sie später nach Israel auswandern und dort nie heimisch werden –, „in diesem so veränderten, aber doch noch erkennbaren Berlin wieder wie vor langer Zeit auf einer Caféterrasse zu sitzen.”

Und weiter: “Wie damals – vor den sagenhaften ‚tausend Jahren’ – den Kurfürstendamm hinabzuschlendern, wieder sein Buch in den Schaufenstern der Berliner Buchläden zu sehen, wieder den Duft der märkischen Föhren in Grunewald zu wittern und das so lang vermißte Gezwitscher heimatlicher Spatzen zu hören, früh beim Erwachen. Das mag nichts Besonderes scheinen – solange man es hat. Wenn man aber, sechstausend Meilen weit entfernt und achtzehn Frühlinge lang, sich vergeblich danach sehnte, so wird alles zu einem bedeutsamen Ereignis. Nun, vieles erkannte ich wieder in meinem Berlin, und manches erkannte auch mich. Aber so viel fehlte“.

Sicher, so vieles verliert sich mit den Zeiten. So vieles kommt auch dazu. Was bleibt, sind die Wesen, die den Platz seit Aber-Generationen beleben.

Eines dieser Wesen ist ER. Passer domesticus. Haussperling. Kräftiger und etwas gedrungener Singvogel.  30 Gramm leicht, 14 bis 16 Zentimeter kurz.  Länge der Flügel: 71 bis 82 Millimeter. Spannweite: 23 Zentimeter. Fängt eine Viertelstunde vor Sonnenaufgang zu singen an – eagl, wie das Wetter ist. Das Tschilpen stellt er ein, bevor die Sonne ganz weg ist.

Ein Überlebenskämpfer ist ER. Gefahren allüberall. Aus der Luft am Boden. Katzen und städtische Raubvögel. Autos und schlechtes Futter. Die Welt ist Feindesland.

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Die Kunst des Seins: Picke den Augenblick.

Aber noch hüpft er dem Penner zwischen den zerlatschten Schuhen rum und stiebitzt die Brosamen vom Platz. Wenn ER so weiter macht, wird er ein zweieinhalb Jahre alter Greisen-Spatz.

ER, das muss man IHM lassen, hat’s drauf.

Versprochen: Beim nächsten Mal gibt’s Kuchen auf dem Kaffeehaustisch. Sollst auch nicht leben wie ein Spatz.