DREIFÜNFZICH

sommer zwanzichfuffzehn XVII

Kurz vor fünf sah Krohn den bekannten Kastenwagen kommen. Er hielt einmal auf Höhe des Sowjetischen Ehrenmals, nun bewegte er sich ohne Zwischenstopp in Krohns Richtung. Es war der gelbe Ford Transit, der ihn schon zweimal aufgepickt hatte. Gehörte wohl einem Trupp von Rumänen.

Neben ihm stoppte das Fahrzeug. Der Beifahrer hatte ihn wieder erkannt, ließ das Fenster herunter schnurren, sagte: „Dreifunfzig!“

„Okay“, sagte Hans Krohn, wollte einsteigen.

„Was – Kollege?“ Er deutete auf den Mann, der Krohn Kaffee angeboten hatte.

„Soll ich fragen?“

„Ja, fragen.“

Er rief dem Mann zu, ob er einen Job für dreifünfzig in der Stunde wolle. Der nickte, nahm den Rucksack in die Hand und beeilte sich, zum Wagen zu kommen.

Krohn hatte die Seitentür aufgeschoben und war schon eingestiegen. Der Andere kletterte hinterher, zog die Tür zu. Außer ihnen saßen schon zwei Männer auf der Bank.

Man war komplett. Der Bus nahm Fahrt auf – bald waren sie auf der Stadtautobahn in Richtung Schönefeld.

Es hatte zu schneien begonnen. Berlin war schweinekalt an diesem Morgen.

Die Rumänen redeten nicht mit ihren Arbeitern und hatten sich auch nicht viel zu sagen. Der Fahrer – Lederjacke, Rollkragen-Pulli, Schiebermütze – lenkte mit einer Hand, die andere war damit beschäftigt, ständig irgendwo zu kratzen. Im Nacken, hinter den Ohren, auf der Brust, im Schritt. Sein Kollege trug einen Blaumann und einen abgewetzten Anorak. Er rauchte unablässig, schnippte die Kippen aus dem Fenster, das er trotz der Kälte nicht geschlossen hatte.

Sie passierten den Flughafen Schönefeld, verließen hinter Waltersdorf die Autobahn. Der Fahrer lenkte den Wagen über immer kleinere Straßen in Richtung Westen. Da es nun stärker schneite, war die Stadt im Norden nicht mehr zu erahnen.

Schließlich bog der Wagen von einer kleinen Teerstraße auf einen Feldweg ab. Sie passierten ein Hoftor, rollten auf dem Platz vor ein paar Gebäuden aus. Es war sechs Uhr morgens.

„Los! Schnell! Arbeit!“, sagte der Raucher. Der Fahrer guckte die Arbeitsstricher  nicht an. Er ließ die Scheibe auf der Beifahrerseite hochfahren, suchte ein anderes Radioprogramm, schob die Mütze in die Stirn und ließ den Kopf gegen die Nackenstütze sinken.

Der Raucher hatte gemeint „Du warten hier!“ und war in einer Art Stall verschwunden. Sie stapften auf der Stelle, um uns warm zu halten. „War einer von Euch schon mal hier?“, wollte Krohn wissen.

Die Anderen schüttelten die Köpfe. Das hier war für alle Neuland.

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Kümmere Dich nicht um die Anderen. Streif‘ die Arbeitshandschuhe an, zieh‘ die Hose hoch und pack‘ an!

Der Rumäne führt uns in einen Stall. Die Boxen für die Tiere sind leer, ansonsten türmt sich Gerümpel aller Art.

„Du werfen das auf Laster“, sagt der Rumäne zu uns. Macht uns verständlich, dass der Wagen minütlich erwartet werde. Dann sollten wir den Stall besenrein räumen.

„Wenn fertig – andere Haus!“ Der Auftraggeber deutet durchs Scheunentor auf einen noch größeren Stall auf der anderen Seite des Hofs. Wir sehen auf den Müll, der zu entsorgen ist, addieren noch einmal die gleiche Menge dazu und wissen: Das wird ein harter Tag.

Der Laster rollt auf den Hof, fährt rückwärts an das Stalltor.

Wir beginnen zu arbeiten.

Zuerst die leichteren Teile. Bretter, Platten, halb volle Säcke, Farbeimer. Du nimmst Abfall in beide Hände, trottest damit zum Wagen und schleuderst den Schrott auf die Pritsche. Zurück in den Stall, nächster Gang. Das ist anfangs nicht anstrengend. Eher empfindest Du das Arbeiten als angenehm, weil Dir endlich warm wird.

Eintönig ist es. Gehen. Abfall aufklauben. Abfall auf den Laster werfen. Und wieder und wieder und wieder.

Du beachtest die drei Anderen nicht. Jeder verrichtet hier seinen Job. Den Männern ist nicht anzusehen, ob sie über etwas nachdenken oder ob der Kopf auf Standby geschaltet ist.

Sie haben starre Gesichter, aus denen stoßweise Atemfahnen in die Kälte quellen. Der Nachbar vom Treptower Park arbeitet mit stoischer Disziplin. Er lädt sich schwere Lasten auf und hält in seinen Bewegungen nicht inne.

Jetzt sind nämlich die schweren Sachen an der Reihe. Und nun ist die Angelegenheit überhaupt nicht mehr angenehm.

Eine Zeitlang arbeiteten sie schweigend, jeder für sich. Dann mussten sie sich zusammen tun. Der Müll, den sie nun entsorgen sollten, wurde immer unhandlicher und schwerer. Der Kaffee-Mann und Krohn waren das eine Team, die beiden anderen wortkargen Typen schienen ohnehin irgendwie zusammen zu gehören.

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Zurück? Berlin? Wie gehabt?

Krohn wollte ja. Aber nun wackelte sein Mut. Nach der ersten Nacht in den Wäldern führte ihn der Zufalls-Weg durch Neuruppin, dort querte er die Bahntrasse. Im Rücken ware die Einsamkeit, vorne ging es nach Berlin. Jede Stunde ein Regionalzug, der Spandau anfuhr. In Schnelle in der Stadt – das hatte doch was!

Vor dem Bahnhof saßen die Suffköpfe. An der Haltestelle warteten junge entmutigte Menschen auf den Bus “nach Hause”. Sie sahen gelb aus.

Er hatte zu dieser Schar gehört. Ganz unten: Hans Krohn wusste, wie sich das anfühlte.

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Nee. Raus! Und rein ins Neue!

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Irgendwann hievten Jan – so hieß der Kaffee-Mann – und Hans ein langes breites Brett aus dem Holzhaufen. Drauf stand etwas von Schweinezucht und VEB. Langsam marschierten wie, das Brett unter Arm, zum Laster. Krohn war erstaunt: Volkseigener Betrieb, das hatte er schon geahnt, als sie auf die graubraunen sehr herunter gekommenen fensterarmen Flachbauten zu gefahren waren.

Doch im Inneren hatte alles eher nach großen Pferdeställen ausgesehen. Ja, was denn nun: Schweine oder Pferde?

Solche Gedanken macht man sich schon einmal, wenn der Tag noch lang und die Arbeit nicht endend doof ist.

So reimte er sich eine Geschichte zusammen (die – das nur nebenbei – der Realität sehr nahe kam):

Vor der Wende hatte es hier im Umkreis von fünf Kilometern, je nach Windrichtung, nach kotenden, pissenden Schweinen gestunken. Hier waren tonnenweise Anabolika aus Jena an rasend wachsende, wässriges Fleisch ansetzende Paarhufer ausgegeben worden, die später mal als Kadaver im kleinen Grenzverkehr zur Auszehrung der kapitalistischen Menschheit jenseits des Eisernen Vorhangs geschafft worden waren.

Dann gab es die Wende – und hastdunichtgesehen – wollte niemand im neuen Volk mehr den eigenen Betrieb.

Dafür kamen smarte Herren in guten Anzügen in ihren beneidenswerten Karossen über den Schotterweg und beguckten sich die verfallenden Gebäude. Und irgendwann sagte einer: Koof ick.

Hat alles gekauft, sich die Hände gerieben und wollte im Süden einer grenzenlos boomenden Weltstadt eine Luxus-Wellness-Pferde-Golf-Farm aufziehen.

Doch der Mann hatte irgendwie blöde kalkuliert. Und so begab es sich, dass er erstmal viel Knete für große Pläne ausgab, dann kein Geld fürs Bauen hatte, dann alles noch einmal ein bisschen aufschob.

Nun begannen seine verbliebenen Anzüge verschlissen auszusehen, der Wagen war schon lange weg – und an Bauen war irgendwann nicht mehr zu denken. Der Mann musste Schulden bezahlen und zusehen, wie er überlebte.

Also verschleuderte er die wertlosen Gebäude und den kostbaren Grund an einen anderen Herrn, der noch superschnieke gekleidet war und es nicht unter einem Porsche machte.

Der wiederum wollte nicht bauen, sondern abreißen. Weg mit dem VEB-Plunder. Alles besenrein. Warten. Auf die Herren mit den Bughattis.

Und zum Abreißen hatte sich der Porsche-Mann die billigen Rumänen besorgen lassen. Aber die machten sich doch die Hände nicht dreckig. Die fuhren zum Treptower Park und luden Hans Krohn  und Kollegen in ihren Kombi.

So wird das sich wohl zugetragen haben, dachte er, während sie das VEB-Brett auf den Anhänger schmissen. So muss das wohl gewesen sein.

Solche Gedanken macht man sich eben, wenn man sich die vermaledeite Zeit vertreiben will.