ADERLASS

Startschuss: 17. August 2019, 6.00 Uhr. Zielschluss: 18. August 2019, 12.00 Uhr. Dazwischen: 160 Kilometer zu Fuß rund um Berlin. Das Event heißt “Mauerweglauf”. In “Vettensjournal” das Protokoll der Vorbereitung. Es beginnt am 9. März 2019 und endet am 17. August: 22 WOCHEN.

Kurze Pause. Sabrina Pedrotti wischt sich die Stirn trocken. Fragt wieviel Uhr es ist, beschließt, es sei an der Zeit, einen Schluck zu nehmen, schenkt sich einen Primitivo ein, das erste Glas ist mit Pellegrino gespritzt, das zweite auch, die beiden gehen auf Ex, beim dritten Mal wird nicht verdünnt. Sabrina nimmt einen Schluck, setzt das Glas auf dem Tisch neben den Pinseln ab, geht zu Hans Krohn, fasst seinen Kopf in beide Hände und küsst ihn irgendwo zwischen Schläfe und Wangenknochen, wobei sie meint „Du Lieber, Du“. Dann lässt sie sich auf die Couch fallen und sieht ihre Arbeit an.

„Weißt Du jetzt, was es wird?“, fragt Krohn.

„Ja.“

„Und?“

„Eine Pietà.“

„Wie bitte.“

„Eine mater dolorosa, eine Schmerzensreiche, eine Herrin des Mitleids.“

„Ich weiß, was eine Pietà ist.“

„Meine ist anders.“

„Habe ich mir gedacht.“

„Sie ist auch eine mater irae, eine mater furoris et versaniae. Wut und Raserei – das will ich zeigen.“

„Warum?“

„Es geht um die Krankheit. Wenn Kranksein mir die Würde nimmt, ist Kranksein schlimmer als Gestorben-Sein. Das will ich zeigen. Die Mutter, die ihren toten Sohn beweint, macht ein gutes Bild. Die Mutter, in deren Schoß ein junger Mann hängt, der noch lebt, aber kein Mann mehr ist, weil ihm die Krankheit die Kraft ausgesaugt hat, ist ein Bild der Ohnmacht und Verzweiflung. Schmerzen. Hoffnungslosigkeit. Vergehen. Geruch nach Verderben. Scheiße, Pisse, Kotze. Aderlass und Medizincomputer – alles eins. Quacksalben oder Heilen – wo ist die Grenze? Das alles will ich zeigen.“

Hans Krohn nickt, aber geheuer ist ihm das Unterfangen nicht. Nach einer Pause fragt er, ob sich Sabrina gut überlegt hat, dass sie sich in der Zeit, in der sie arbeiten kann, auf ein Treffen mit dem Krebs einlassen will.

Ja. Will sie.

Das Glas geleert, mit einem entschiedenen Schluck. Aufgestanden, mit einem trotzigen Ruck. An die Arbeit. Sabrinas Sprache ist klar, die Gedanken bleiben böse, der Ahornklotz ist wie ein Feind.

Erinnerst Du Dich, wie Sie mir „Onkotype“ verkaufen wollten. Wenn ich da nicht zugreifen würde, haben sie durchblicken lassen, wäre ich sowieso eine tote Frau. Ohne „Onkotype“ ist man heute verloren.

Zwei Möglichkeiten habe ich, haben sie gemeint:

Ich kaufe mich ein – kostet 4000 Euro, ungefähr.

Ein anderer Doc bietet das ganze Paket zwei Wochen drauf für 3000 Euro an.

Oder ich unterschreibe für eine Studie. Dann zahlt die Krankenkasse was, irgendwie, irgendwann. Dann bin ich unter den Nummern eine Unternummer.

Aber ich weiß dann – haben sie gesagt – genau, was Sache ist. Ob ich den Krebs habe, wann ich den Krebs bekomme, wenn ich ihn nicht habe. Dann kann ich mir sicher sein – haben sie gesagt.

Erst haben sie alles aus der Brust raus geschnitten. Alles bestens,  haben sie nach der Operation gemeint – und im nächsten Satz gesagt, wenn ich ganz sicher gehen will, kann ich wohl auf dieses „Onko-Dingsbums“ nicht verzichten.

Da rufen dann Menschen an, die mir unbekannt sind, und setzen voraus, dass ich mit einer Studie einverstanden bin, von der ich gar nichts weiß. Sie wollen mich überfahren – bei alten Menschen nennt man das den „Enkel-Trick“ – und mir die Unterschrift abluchsen, bevor ich überhaupt zum Nachdenken komme.

Ich bin noch gar nicht verheilt – da bekomme ich schon Post, dass ich bis jetzt 15000 Euro gekostet habe.

Ich weiß schon: Jetzt soll ich mich scheiße fühlen und denken, Gott bin ich teuer, jetzt nur nicht zusätzlich das Maul aufreißen.

Dann verschreiben sie mir Mepilex. Nun muss ich aber wirklich ein schlechtes Gewissen haben:

Was für eine undankbare Patientin!

Macht Probleme!

Heilt nicht sauber ab!

Lässt sich operieren und eitert vor sich hin!

Also Mepilex. Kommt aus Schweden, die Fabriken stehen in Mölnlycke bei Göteborg, da stehen sie seit 1849. Textilien wurden in den von Wasser umgebenen Hallen hergestellt, später spezialisierte sich das Unternehmen auf Verbände, der Mull wurde erfunden. Verbände brauchen die Menschen immer, im Krieg und im Frieden. Ich habe das im Netz recherchiert, da wird einem schlecht, wenn man sieht, wie die Mölnlycke-Leute sich dick tun, weil sie die Welt verbinden.

Dabei saugen sie erst einmal die Arbeiter aus. Es gibt Bilder von Patienten, die sich ihre Verbände selbst rollen.

Und heute sind sie immer noch die Größten. Ich kriege das noch hin, was sie im Netz schreiben:

Jede Minute fabrizieren sie 400 Paar Einweg-Handschuhe. Jeden Tag hauen sie 800000 Produkte raus. Alle drei Sekunden wird in irgendeinem OP-Saal auf dem Globus ein Patient mit einem Mölnlycke-Tuch abgedeckt.

Und sie haben Mepilex. Grau. Schlicht wie Schaumstoff. Wunder bei der Wundheilung. Schweineteuer.

Ist mir verschrieben worden – mit dem Hinweis, dass das eine Fünf-Sterne-Behandlung ist. 240 Öcken das Twelfe-Pack. Da bin ich erschrocken. Als ich im Netz nachgeschaut habe, gab es die Packung für 150. Ich spreche beim nächsten Mal den Apotheker drauf an, da isser beleidigt.

Nein, kritisch darfst Du nicht sein, wenn Du Patient bist. Dann störste Du das Ganze.

Oder nehmen wir Heidelberg.

Hans würde gern Wein trinken – die Suada der Pedrotti strengt ihn an.

Aber er ist ein braver Patient. Kein Alkohol.

Krohn fragt, was sie damit meine:

Heidelberg?

„Das kann ich Dir sagen. Angefangen hat es mit der ,Bild‘. Als die von einer ,Sensation‘ schrieben, haben sie mich gehabt. Tage hat es gedauert, bis ich merkte: Schon wieder verarscht.“