WUNDERBARE JAHRE

Startschuss: 17. August 2019, 6.00 Uhr. Zielschluss: 18. August 2019, 12.00 Uhr. Dazwischen: 160 Kilometer zu Fuß rund um Berlin. Das Event heißt “Mauerweglauf”. In “Vettensjournal” das Protokoll der Vorbereitung. Es beginnt am 9. März 2019 und endet am 17. August: 22 WOCHEN.

Es schifft in Bayern. Land unter. Muttertag. In den Bergen fällt Schnee. Ein junger Mann gurgelt mit dem Strohhalm einen Milchshake aus dem Becher, guckt auf den Parkplatz vor dem Penzberger McDonalds und sagt zu seinem Freund, eigentlich hätte er heute eine Maschin‘ probefahren wollen, aber drauf geschissen bei so einem Wetter. Das sei ein echter „Gammeltag“. Er schiebt sich die Baseball-Cap in die Stirn.

Sabrina kichert. Sie nimmt noch ein McNugget, hach, wie ungesund ist das, und für eine Krebskranke schickt es sich gleich gar nicht. Aber sie liebt diesen Tag mit den Pommes und den Apfeltaschen und den Sünden und dem Dauerregen.

Schön sieht sie aus. Kaschmirmantel. Glitzersakko. Jeans. Teurer Mohair-Schal, auf den Sabrina ein bisschen Currysoße gekleckert hat, na und?

Sie wischt das Frittenfett von den Fingern und entscheidet:

„Los. Gegessen haben wir! Gammeltag ist nicht. Jetzt machen wir Kultur.“

Sie landen in Buchheims Museum. Aufs Neue verkirrt sich Sabrina in Kirchner und Nolde, den alten Nazi. Den flotten Dreier stockt unvermutet der Heckel auf; den mag Sabrina ansonsten nicht so doll, aber beim Buchheim hängen Bilder, die sie anrühren.

Lang steht sie vor einem wandgroßen Bergbild Kirchners und staunt. Ganz leicht ist ihr. Sie denkt, was für einen Mut dieser Mann gehabt haben muss, als er seine Lehmfarben verteilte.

Kirchner, Kämpfer für seine Kunst. Irgendwann war er am Ende mit dem Mut zum Weitermachen. An einem Gartenzaun auf dem Wildboden bei Davos setzte er sich die Browning M 1910 (Kaliber 7.65) mit der Seriennummer 96151 zweimal auf die Brust und drückte ab. Aus war’s mit der Kunst. Ernst Ludwig Kirchner liegt auf dem Waldfriedhof in Frauenkirch begraben, nur hundert Meter von dem Gartenzaun weg, an dem er sich erschoss.

Sie möchte gehen, erklärt Sabrina, nachdem sie sehr lange vor Krichners Bergbild gestanden hat. Krohn macht sich Sorgen. Ihr Lachen ist verschwunden, in sich gekehrt lässt Sabrina sich in den Mantel helfen, an der Kasse geht sie vorbei, ohne eine Kunstkarte zu kaufen (das tut sie ansonsten immer nach einem Museumsbesuch), wortlos drückt sie sich durch die Drehtür hinaus in den Regen. Er folgt ihr, den Hügel hinauf, in Richtung Parkplatz.

Sabrina stoppt und sagt: „Lass uns sitzen und schauen.“

Sie deutet auf eine Bank, auf der Wassertropfen spratzeln.

„Es regnet:“, meint Hans Krohn.

„Na und? Ist doch schön.“

Nun denn, sie setzen sich. Blicken über die sumpfnasse Wiese, vorbei an einem hippiebunt lackierten Helikopter, zum Museum, das sich in den Hang duckt. Kein schönes Gebäude ist das an diesem verschifften Nachmittag, ungepflegt wirkt es und nicht ganz dicht. Dahinter der See, der sich grau kräuselt.

Die Menschen passieren das Paar an der Bank verwundert und ziehen die Regenschirme dichter über die Köpfe. Hans Krohn kann das Befremden nachvollziehen.

Sabrina murmelt (während der Regen über ihren schwarzen Mantel tränt):

Diesseitig bin ich gar nicht fassbar
Denn ich wohne grad so gut bei den Toten
Wie bei den Ungeborenen
Etwas näher dem Herzen der Schöpfung als üblich
Und noch lange nicht nahe genug.

Wie war das? will Krohn wissen.

Na, das habe sie vor ein paar Tagen bei Klee gelesen.

Wann das gewesen sei?

„Ich habe mir ein paar von Deinen Büchern ausgeliehen. So welche, von denen ich gedacht habe, dass sie gut zum Wein passen.“

Achso. Krohn schweigt. Denkt nach. Paul Klee – wo hat er denn den Klee hin gestellt? Achja, neben den Wolkenstein. Das ist ein kunterbuntes Regal geworden. Klee neben Wolkenstein, Klaus Mann an der Seite von Améry. Die Erzählungen Hemingways, ein mäßig inspiriertes Sachbuch von Birgit Lahann über Künstler, die Selbstmord begangen haben.

Seltsame Auswahl. Als er die Bücher versammelte, hatte er keine rechte Idee, warum.

Ja, der Klee. Dessen Gedichte und Tagebücher sind auch dabei.

„Da fällt mir was ein“, sagt der auf der Bank einnässende Krohn. „Ziemlich gute Gedichte.“ Er bemüht sich um dramatischen Vortrag:

Einst werd ich liegen im Nirgend
bei einem Engel irgend

Schön. Sabrina hat das Gesicht einer wunderbaren Frau, die in den Sonnuntergang blickt, dabei guckt sie ins Mai-Geschnürl. Ob Hans sich an mehr erinnere?

Ja, das tut er. Weil er die ersten Zeilen des Gedichts in seiner Kladde notiert hatte. Dir Kraft der Wörter hatte er festhalten wollen.

Krummfahrer! Bösharrer! Schmutzstarrer!
Pelzläuser! Wißbesser!
Schmerling!
Duckmäuserlehrling!!

Alle alle hatt ich gern
und jetzt bin ich kühler Stern.

Großwendig. Schwerhendig
anhaltig – glattfaltig
vieleinig.

ferne Seele bitt um Gnade
mach mich tief.

 

Soll er erschrecken? Hans Krohn sieht hinüber zu der Frau, die nur Interesse für den See im Regen zu haben scheint. Nach Zögern – es ist ein Augenblick, in dem er die Wendungen durchspielt, die das Gespräch nehmen könnte – fragt er, welche Bücher sie denn außer dem Klee noch „ausgeliehen“ habe.

Sie antwortet zu schnell. Ach nichts Besonderes.

Hans Krohn weiß Bescheid. Sabrina und er teilen sich die Lektüre. Das ist nicht gut, gar nicht gut.

„Selbstmörder ist man lange bevor man sich umbringt“, schreibt Jean Améry. Warum begeht man Selbstmord? fragt Klaus Mann. „Plötzlich ist man am toten Punkt, am Todespunkt. Die Grenze ist erreicht. Kein Schritt weiter! Wo ist der Gashahn? Her mit dem Phanodorm! Schmeckt es bitter? Was tut’s? Das Leben hat nicht eben süß geschmeckt.“ Und Stefan Zweig notiert kurz vor dem gemeinsamen Suizid mit seiner Frau: „Ich grüße alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.“

Krohn erinnert sich auch an die Passage aus dem Lahann-Buch, die ihn seit dem Lesen beschäftigt:

Wolfgang Herrndorf ist wohl der erste Schriftsteller, der über seinen unheilbaren Tumor im Kopf und seinen beschlossenen Suizid öffentlich und bis zum Ende in seinem Blog „Arbeit und Struktur“ geschrieben hat. Über Tränen und Träume, Chemotherapien und das Verlöschen seiner Energie, über Todesangst und gewünschte Lebenszeit, und immer mit der Frage im Kopf: Wird der Absprung rechtzeitig gelingen? Ich schlafe mit der Waffe in der Faust, ein sicherer Halt, als habe jemand einen Griff an die Realität geschraubt. Alle Koordination kommt aus dem Kopf. Als er merkt, dass er sich nicht mehr auf sie verlassen kann, ist es soweit. Liegen bis in die Nacht am Ufer unter Sternen. Wenige Tage später, am 26. August 2013, erschießt er sich kurz vor Mitternacht in Berlin am Ufer des Hohenzollernkanals.

Ein Freitod kann aber auch impulsiv und eruptiv sein. Am 12. September 2013 springt der Schriftsteller Erich Loest, der mit dem Roman „Nikolaikirche“ berühmt geworden war, mit 87 Jahren aus dem zweiten Stock des Universitätsklinikums Leipzig. Als man der herbeigerufenen Lebensgefährtin sagt, dass ihr Mann sich kurz vor 18 Uhr aus dem Fenster gestürzt habe, ist Linde Rotta fassungslos. Um 17 Uhr hat sie ihm doch noch eine Scheibe Brot in kleine Stücke geschnitten. Aufstehen wollte er nicht, zu schwach. Und nun soll er aus dem Fenster gesprungen sein? Ihr Mann, schreibt Linde Rotta im Nachtrag seines posthum erschienenen Tagebuchs „Gelindes Grausen“, litt an hysterischer Höhenangst. Doch dann sieht sie seine letzte Erzählung auf dem Nachttisch. Sie ist sicher, dass sie dort vorhin noch nicht gelegen hat. Nun ahnt sie, schlägt das Buch auf und liest die Abschiedszeilen für sie mit „Dank für wunderbare Jahre“.

Ohne End‘ kommt der Regen. Sabrina hält ihr Gesicht heiter nach oben. Hans Krohn sieht ihr beim Genießen des Wetters und des Tages zu.

Ja, das war schön beim McDonalds. Ja, das sind Farben für die Ewigkeit, die der Kirchner da auf die Leinwand gebracht hat. Ja, das ist das pralle Leben, im Regen zu sitzen und zu wissen, dass man Gleiches denkt.

Ja.

Das ist was Anderes als die Welt dieses Buchheim.

„Hast Du was gesagt?“

„Wie meinst Du?“

„Du hast irgendwas gesagt über Buchheim, glaube ich.“

„Ehrlich? Na, da habe ich laut gedacht.“

„Was hast Du denn gedacht.“

„Dass der Buchheim ein Arschloch gewesen ist.“

„Wie meinst Du das? Soviel Kunst – und ein Arschloch?“

„Kennst Du seine Geschichte?“

Nicht besonders, sagt Sabrina. Er solle erzählen, das fände sie schick. Und vielleicht sollte man weiter gehen. Es regne.

Sie steht auf. Begossenes Pudel-Mädchen. Er lacht. Und beginnt zu reden. Von diesem Buchheim und seinen Wunderbaren Jahren mit sich selbst.