OLD MAN AND MEHR

Startschuss: 17. August 2019, 6.00 Uhr. Zielschluss: 18. August 2019, 12.00 Uhr. Dazwischen: 160 Kilometer zu Fuß rund um Berlin. Das Event heißt “Mauerweglauf”. In “Vettensjournal” das Protokoll der Vorbereitung. Es beginnt am 9. März 2019 und endet am 17. August: 22 WOCHEN.

Sabrina mag sich nicht vorstellen, dass ein Mensch, der solch ein wunderbares Museum eingerichtet hat, der ewige Kunst erkannt und gehortet, der für das Schöne gekämpft hat, ein „Arschloch“ gewesen sein soll. Nachdenklich trappt sie durch den Park überm See. Aus einer Manteltasche hat sie eine kunterbunte Mütze gezogen, aus der Handtasche die Sonnenbrille gefischt. Jetzt ist sie gewappnet für outdoor.

„Erzähl.“

Er war unsinnlich.

Er war streitsüchtig.

Ihm waren die anderen Menschen wurscht.

Ein manisches, verlogenes Stück in eigener Sache hat Lothar-Günther Buchheim aufgeführt.

Weil die Mutter eine irre Künstlerin war, ist er als Kind schon verloren gewesen. Ihn streichelte niemand, er war zu keinem nett.

Bei den Nazis hat er sich schadlos gehalten. Verflucht begabt ist er gewesen, und so konnte er sich durchwurschteln mit seinen Reportagen von der Marinefront. Die „Kameraden“, zu denen er ins U-Boot stieg, entlarvten Buchheim als Feigling und Speichellecker. Die braunen Propagandisten standen tierisch auf seine Bilder und Storys.

Als der Krieg zu Ende ging, griff sich der Berichterstatter Buchheim noch ein paar Artefakte in der Normandie und verzupfte sich nach Bayern. Die „Geliebte“ aus Frankreich – es war wohl eher die „Gefickte“ – schlug er sich schnell aus dem Hirn, tat weitere Weiber auf.

Er hat eine Frau geheiratet, die seine Geschäfte zuverlässig in seinem Sinn besorgte. Sie hat auch einen Sohn in die Welt gesetzt. Der war dem Vater nicht willkommen, später hat er ihn als eine Art Sekretär und Geldboten gehalten. Geld gab es immer – und immer musste man drum raufen, es verstecken, jemanden übervorteilen.

Ja sicher, Buchheim liebte Schampus und Kaviar – aber gezahlt haben das Zeug immer die Anderen. Er hatte das Gefühl für teure Kunst – drauf gezahlt haben bei seinen Winkelzügen immer die Anderen.

Er schrieb ein ordentliches Buch, sein Strich war passabel. Und Buchheim schaffte es, dass viele glaubten, er sei ein großes kratives Genie.

War er nicht. Er war ein lauter PR-Agent der Buchheim-Legende.

Als der Sohn rebellierte, kam es zum Bruch. Der Vater beschimpfte Yves Buchheim als ungewollten „Bastard“ und seine Frau als Hure.

Als Buchheims Bruder beerdigt wurde, stellte er sich ans offene Grab und pöbelte. Ein alter Mann mit unordentlich geschnittenem kurzen Haar (er war zu geizig, zum Friseur zu gehen, dazu hatte er eine Frau). Langer dunkler Mantel, böser Blick über die Trauergemeinde.

Buchheim wartete, bis jeder ganz Ohr war.

„Ein ganzes Leben habe ich mit meinem Bruder geteilt, von der frühen Kindheit an, und ich weiß, dass wir mit kahl geschorenen Köpfen von einem Kinderheim ins andere gestoßen wurden und aus der vorgeheuchelten gutbürgerlichen Familie kamen, nicht aus einem sogenannten geordneten Elternhaus, sondern aus einem wahren Chaos. Es war eine verlorene Kindheit.“

Was für ein gallbitterer Monolog war das auf dem Friedhof von Feldafing. Buchheim kotzte sich aus über seinen Bruder und dessen Freunde, allesamt „Kameradenschweine“, „Nazigesindel“, „alte Kameraden, Braunhemden und schlimmes Pack“. Man ließ ihn geifern, doch er hörte nicht auf, nie hörte Buchheim auf in seinem Jähzorn, nie war er zu stoppen. Nicht einmal am Grab des Bruders.

Irgendwann begann einer mit den Schuhen im Kies zu scharren, die restlichen Besucher taten es ihm nach. Sie wurden mit den Füßen lauter, als Buchheim es mit seiner Stimme schaffte. Er brüllte gegen das Scharren an, eine Tochter des Verstorbenen schob den alten Mann zu Seite. „Hör auf, Günther, es reicht jetzt! Hör auf, unsere Freunde zu beleidigen.“ Die Trauergäste drückten den alten Mann weiter und weiter an den Rand.

Da stapfte er vom Friedhof, ließ sich in einer nahen Wirtschaft voll laufen, taumelte später zum Leichenschmaus, wurde mit Bier versorgt und nicht mehr zur Kenntnis genommen. Man brachte ihn nach Hause, er kam nicht zur Ruhe. Schrieb einen Brief an die Witwe. „Dieser Mensch, der mein Bruder war, war ein ganz Anderer als der, den ihr kennt. Ich habe genug gehabt von diesem christlichen Gewäsch. Ich wollte über meinen Bruder reden, mit dem ich schließlich aus der Wärme ein und desselben Bauches ans Licht dieser elenden verlogenen Welt befördert worden bin.“

Buchheim war so furchtbar traurig an diesem Tag. Also wütete er.

„Das war doch menschlich“, sagt Sabrina.

Schon, schon.

„Willst Du ihm das vorwerfen? Dass er es so schwer mit seinen Gefühlen hatte?“

Nein, das ist es nicht, sagt Krohn.

„Was dann?“

Buchheim war begabt. Ein Mensch der Kunst. Er hatte Erfolg. Ein Göttergünstling, könnte man meinen, ist er gewesen.

Aber nein!

Geiz. Betrogen und gelogen. Kunstbetrug. Steuer-Hinterzug.

Misstrauen.

Neid.

Zorn.

Unfreude. Hader. Böswille. Schaden-Lachen. Schatten-Denken.

Krohn bleibt stehen und sieht die Rain-Queen Sabrina an.

„Er hat alles gehabt. Und er hat sich nicht daran gefreut. Das verstehe ich nicht.“

Sie nimmt seine Hände. „Da musst Du nicht weinen. Wie Andere mit sich umgehen, interessiert uns nicht. Mir ist es egal, ob dieser Buchheim ein Arschloch gewesen ist. Er hat diese Bilder zusammengestohlen, und jetzt hängen sie da unten im Museum und wir stehen davor und staunen über soviel Schönheit. Das zählt für mich.“

Ja, da hat sie wohl Recht. Und überhaupt: Wer weint denn? Ist nur der Regen. Klar?