FALSCHER FILM

„2017”*, Folge 71, 27. November. “Durchs Land”/XIII.

 

München. Den Aufenthalt hat er verlängert. Hans Krohn mag sich jetzt nicht aus der Stadt verdrücken. Er dreht die Zeit zurück und erinnert sich an die Jahre mit der Frau. Das ist unangenehm – aber nun muss es sein. Zeit zum Aufräumen, auch hier.

Er ist in einen kleinen Park in Bogenhausen, unweit der Villa von Thomas Mann, gewandert. Hier hat er oft gesessen – in den Monaten, bevor die große Illusion zerborsten ist.

Wie lange haben sie es miteinander ausgehalten? 18 Jahre? 20? 22?

Egal, es war eine zähe Zeit, als es zu Ende ging.

Niemand hat es so recht kommen sehen. Der Krohn und seine Frau sind ein glückliches Paar, hat man über sie gesagt. Sie waren willkommene Gäste, weil sie nett waren. Sie behandelten einander höflich, nie erlebte man sie streitend.

Ein erfolgreiches Paar. Sie war nicht mehr wegzudenken aus der Chefetage des großen Verlags, in dem sie als Tippse angefangen hatte. Nun stand „Assistentin des Vorstands“ auf ihrer Visitenkarte, sie kannte die Geheimnisse des Hauses und begleitete den Chef auf dem Weg ins neue Zeitalter.

Krohn, der Glücksritter, trickste sich nach ganz oben. Es gab bessere Fotografen, fleißigere, Fotografen mit wirklicher, großer Leidenschaft.

Krohn war einer, der sich verkaufen konnte. Er machte den Leuten weis, er sei ein Könner. Präsentierte seine Bilder mit weißen Handschuhen, weil sie angeblich so wertvoll waren. Stellte überdimensionale Abzüge her – aus Fotografien wurden so Kunstwerke. Er fotografierte nur mit den teuersten Apparaten. Führte Objektive mit sich, die sündhaft viel Geld kosteten, die er aber fast nie benutzte.

Krohn fuhr einen luxuriösen Wagen mit Minibar, Fernseher und einem Science-Fiction-Cockpit.

Er hatte eine Uhrensammlung.

Krohn kombinierte Kaschmir (Sakko und Pullover) mit billig (Jeans) und männlich-herb (englischer Captoe-Derby-Boot, geöltes Boxcalf, rahmengenäht, Lammfell innen, Profilsohle, hunderte von Meilen auf dem Tacho) bei wichtigen Terminen. Das machte Eindruck – er ging dann als wilder Kreativer ohne Furcht vor der weiten Welt durch.

Er spielte allen etwas vor.

Seine gute Laune.

Seine Hingabe an die Arbeit.

Seine Sympathie für Andere.

Seine Sicherheit.

Das spielte er allen vor – und sich selbst.

Manchmal konnte er sich nicht austricksen. Dann nahm er Reißaus. Er kam nicht von einem Termin zurück, zog im Hotel die Vorhänge zu, trank Bier und sah fern. Es schien kein Morgen mehr zu geben – aber dann kam der Augenblick, da duschte er, packte die Sachen, zahlte das Zimmer und fuhr zurück.

Zu der Frau, die nichts fragte. Sie hatte Angst vor diesem Hans Krohn, mit ihm wollte sie nichts zu tun haben.

Auch sie spielte allen etwas vor.

Die Vertrautheit mit Hans Krohn.

Ihren Glauben an ihn.

Ihr Interesse an dem vermeintlich Gemeinsamen.

Das spielte sie allen vor – natürlich auch sich.

Aber – wenn sie ehrlich war – sie mochte das alles nicht, wie es war. Hans Krohn gab den Künstler – und was blieb ihr? Ein Mann, auf den sie sich nicht verlassen konnte. Mit ihm konnte sie nicht planen, er wand sich aus jeder Verantwortung.

Ja, wenn sie ehrlich war: Am behaglichsten war ihr, wenn sie nicht an Hans Krohn dachte.

 

Sie hatten es sich respektierlich eingerichtet. Eine Fünfzimmer-Wohnung in Bogenhausen – die musste man sich erst einmal leisten können. Morgens schien die Sonne auf den östlichen Balkon, abends konnten die Krohns auf dem Westbalkon sitzen und den Sonnenuntergang über Isar und Englischem Garten genießen.

Aber sie frühstückten aus der Hand und im Stehen. Abends trafen sie sich nur, wenn Freunde eingeladen waren. Ansonsten ging jeder seiner Wege. Sie war viel mit Freunden unterwegs, ging ins Theater oder zu Festen.

Hans lief an der Isar, bis er erschöpft war.

Jahrelang reichte es ihm, wenn er auf Reisen trank. „Zuhause“ trieb er sich beim Sport in den Schmerz, dann konnte er den Rest ertragen.

Dann kamen die Jahre der Sprachlosigkeit.

Sie hasste seine Rituale. Nicht einmal, wenn er seine englischen Maßstiefel wichste, konnte sie das besänftigen. Warum musste er schon beim Frühstück diesen elends-faden Deutschlandfunk hören? Was hatte er davon, dass er sich Simenon-Bücher in Sprachen kaufte, die er nicht verstand? Hatte er nicht schon genug Merian-Originalstiche (schweineteuer waren die!)? Konnte er nicht endlich mal beide Hände beim Autofahren ans Steuer legen, musste er immer den Mister Lässig raus hängen? Was sollten seine blöden Fragen, ob sie ihn liebe (dann musste sie ein Ja lügen, obwohl ihr zum Kotzen war)? Glaubte er, dass dieses Sport-Treiben irgendeinem vernünftigen Menschen imponieren würde?

Warum waren sie eigentlich zusammen?

Ja, sicher dachte sie das. Aber das hatte nichts zu sagen. Deswegen sagte sie auch nichts.

 

Klamme Kälte kriecht unter Krohns T-Shirt. Auf der grauen Isar verlieren sich ein paar silberfarbene Sonnenstrahlen. Blätter taumeln ins nasse Gras. Eine Joggerin mit schönem Hintern hat schlechte Laune.

Krohn ist es, als wäre es gestern.

Am Ende der langen Sprachlosigkeit hat er jeden Nachmittag auf dieser Bank gesessen. Er versuchte zu lesen, ab und zu fischte er aus der Einkaufstasche eine Flasche.

Er erinnert sich, ihm ist, als sei er noch in der Ehe:

Er trank und sah in die Bäume, die das letzte Laub verloren. Drüber ein wandernder Himmel. Er hatte die Wolken gegrüßt und sich vorgemacht, er sei doch ganz zufrieden in seiner Watte-Welt.

 

Ja, sie und er haben lange durchgehalten.

Wo ihnen doch klar sein musste, dass sie im falschen Film waren.

 

*“2017“ beginnt in der Kalenderwoche 38 des Jahres 2017 und endet am 31. Dezember. Thema: 105 Tage Deutschland. Unterwegs in der „Heimat“.