VORLAUF

D 2017*, Folge 6. 23. September. Berlin im Regen.

Für viereinhalb Millionen Euro ist die Siegessäule gepimpt worden, nun strahlt sie, weil Berlin immer was zum Feiern hat. Morgen werden 40000 Menschen vorbei rennen, da haben sie noch rund 40 Kilometer vor der Brust. Seit Tagen bevölkern sie – ernsten Gesichts und teils drahtigen Körpers – die Stadt.

Marathon.

Die „Gold-Else“ hat schon soviel erlebt. Hier hat vor 200000 Menschen US-Präsident Obama so geklungen, als sei die Welt bald ein friedlicher Ort: „Wir wollen erreichen, dass die Zahl der taktischen Waffen der USA und Russlands in Europa erheblich verringert wird. Wir werden die nukleare Bewaffnung verhindern, die Nordkorea und der Iran womöglich anstreben. Amerika wird einen Nuklearsicherheitsgipfel ausrichten, um die sichere Aufbewahrung von Nuklearmaterial auf der ganzen Welt zu gewährleisten.“

Ach, das hat er schön gesagt, die Menschheit – ein Mister Trump ausgenommen – war begeistert. Damals.

Heute schreibt Obama fleißig sein Leben auf, und Mister Trump erklärt, wenn er es für notwendig erachtet, den totalen Krieg.

 

Das juckt die „Gold-Else“ nicht. Sie hat gesehen, wie in der Umgebung die „Mauer“ geschleift wurde, wie die Fußball-Weltmeister mit Herrn Löw Schlager von Helene Fischer grölten, wie die bunten Massen beim „Christophers Street Day“ den Bären steppen lassen, wie der Hitler sich 1939 vorbei kutschieren ließ, um nachzusehen, ob sie endlich an der richtigen Stelle in der Berlin gelandet war.

Ganz zu Beginn hat Berlin für die Viktoria auf der Siegessäule so ausgesehen, wie sich das im „Gartenlaube“-Roman „Goldelse“ liest:

„Die Gasflammen ersetzen die Himmelslichter, die nicht kommen wollen; um die Ecken jagen die Equipagen in so wüthender Eile, daß die Fußgänger nur durch einen kühnen Sprung an die Häuser Leben und Glieder retten; dafür folgt ein Schwall kräftiger Flüche dem pelzverbrämten Kutscher und dem eleganten Wagen, hinter dessen festgeschlossenen Scheiben reizende Damen ihr blumengeschmücktes Köpfchen mühsam über die ungeheuren Wogen des umfangreichen Gazekleides heben und keine Ahnung davon haben, daß in diesem Augenblick Feuer und Schwefel auf ihre duftenden Locken herabgewünscht werden.“

 

Morgen umrunden bunte Frauen und Männer den Großen Stern. Ein wogender, bunter Schwarm. Wimmelt in Richtung Theodor-Heuss-Platz. Keine Gesichter, nur hastende bunte Körper.

Die Menschen beginnen spätestens jetzt zu schwitzen. Sie atmen noch ruhig, finden ihren Schritt und richten sich auf drei, vier, fünf Stunden Körperstress ein.

40000 Frauen und Männer. 40000, jeder mit einem kleinen oder großen Traum. Jeder will ins Ziel. Und wenn er angekommen ist, eine Medaille bekommen hat, unter der Dusche war – dann muss er weiter. Zum nächsten Traum, vielleicht.

 

Das alles wird morgen sein.

Jetzt ist Samstag, halb neun Uhr abends, und es beginnt zu regnen. Die Straße nimmt Glanz auf, die blauen Dreierstreifen, die morgen die Läufer vom Start ins Ziel führen werden, verwischen in der Gischt.

„Gold-Else“ im Regen.

Heuss-Platz, ein Abtörner.

Der Wedding, abweisend.

Moabit, viele gelbe Funzeln hinter Gitterfenstern – und viele dunkle Zellen. Es ist Samstag, und die Knackis haben das ganze unendliche Wochenende noch nicht mal halb hinter sich.

Der Bahnhof, um diese Zeit kommen nicht mehr viele Reisende an, sie haben ergebene Gesichter, wollen ins Hotel und es hinter sich haben.

Es?

Den Tag. Das Reisen. Was auch immer.

 

Dann geht es über die Brücke in Richtung Friedrichstraße. Bahn-Unterführung. Bürogebäude auf der Linken.

Da läuft über dem Eingang die Schuldenuhr.

Was heißt „sie läuft“?

Sie rennt. Die Zahlen wuseln schneller, als jeder Afrikaner morgen beim Marathon mit seinen Füßen auf den Asphalt trommeln kann. Die Zahl hat so fürchterlich viele Stellen. Eine Eins und neun Ziffern dahinter. Billionen? Trilliarden? Whatever. Es geht über den Verstand.

Dann Berlin Mitte. Menschen in Abendgarderobe.

Nach dem Alex Menschen im letzten Hemd. Die Penner ducken sich in Hauseingängen vor dem Regen weg.

Heinrich-Heine-Straße. Früher war hier mal die Grenze zwischen Ost und West. Heute ist es Niemandsland. Nur ein dunkler Lidl und ein abweisendes Hotel.

Weiter laufen!

Es schüttet. Morgen soll es am Vormittag trocken sein, da wird gewählt.

Und da wird gerannt.

Halb zehn.

Dann starten die Guten.

*“D2017“ beginnt in der Kalenderwoche 38 des Jahres 2017 und endet am 31. Dezember. Thema: 105 Tage Deutschland. Unterwegs in der „Heimat“.