VERSEHRT

16. februar, petersburg west virginia, 12 grad, heiter/lindow, 4 grad, regen        ——       winter 16/17, Folge 38

 

Gereald tätschelt seinem „Buffalo“ die Flanke. „Einer unserer großen Generäle hat mal gesagt, die Buffalos waren die Arbeitspferde der Marine. Weil sie die Truppen sicher in die Landschlachten gebracht haben. Der Mann hat ja sowas von Recht.“

In so einem Ungetüm ist ein Kumpel seines Dads verreckt. Klar war es ein Verrecken. Man weiß nicht, sind die Jungs verblutet, ersoffen oder erstickt. Auf jeden Fall war’s kein Spaß.

Dad hat oft vom Tod des Kumpels erzählt, wenn er mit seinem Sohn Gereald beim Fischen oder beim Jagen war. Dann hat er beschrieben, was das für ein Scheiß-Gefühl war, da draußen in der Schlacht.

Aber er hat dem Sohn auch immer gesagt, dass so ein Tod im „Buffalo“ ein echtes Helden-Stück gewesen ist.

 

„Ja, der Buffalo“, sagt der Besitzer des Kriegsmuseums von Petersburg, „der Buffalo ist unseren Jungs immer ein treuer Begleiter gewesen.

Wir haben ihn gebraucht – drüben bei Euch im Weltkrieg und in der Südsee. Die Dinger sind am Anfang manchmal schlecht zu fahren gewesen, die Kette hat sich verhakt, die Jungs hatten zu wenig Waffen an Bord.

Aber unsere Ingenieure haben das hin bekommen und besser gemacht. Breitere Ketten. Mehr Maschinengewehre. Größere Wendigkeit.

Die sind an die Küste geschwommen und gefahren und waren nicht zu stoppen. Wenn Du in so einem Monster gesessen hast, warst Du Gott. Klar, bei einem Treffer warst Du ein toter Gott.

Aber das war eben der Krieg.

Denk‘ doch mal nach: Das ganze Leben ist ein Krieg. Wir sind nur zu feige, es zuzugeben.

Jetzt hat der Sicherheitsberater von Trump den Schwanz einziehen müssen. Sowas macht mir Angst.

Da sind endlich Leute am Ruder, die wissen, was sie tun – und dann werden sie mit Lügen und Scheinheiligkeit vertrieben.

Aber es ist Krieg. Und Trump weiß das. Ich danke dem Herrn, dass es den Mann gibt.“

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 In Brandenburg sitzt der stinkende Matuschke beim Wodka und ist auch nicht zu stoppen.

“Das mit dem Bein ist ’53 gewesen – oder war’s ’54? Also, im September, ich war gerade in die Schule gekommen, dann war das ’54. Ich weiß noch, dass es ein gutes Jahr für Kartoffeln war.

Ich habe dem Vater morgens noch beim Füttern im Stall geholfen. Nach dem Frühstück ist die Mutter mit mir zur Schule gegangen. Ich war ja noch ganz neu, da hat sie mich eben begleitet. Waren zwei Kilometer über die Felder, durch den Wald und in den Ort rein. Nach der Schule hätte sich mich eigentlich abholen sollen, aber sie war nicht da. Ich bin dann mit den anderen Aussiedlerkindern zurück zum Hof.

Keiner zuhause. Das war komisch. Eine Nachbarin ist gekommen. Ganz freundlich ist sie gewesen, das kannte ich gar nicht von ihr. Ich habe bei ihr Mittag bekommen, habe meine Hausaufgaben gemacht, war ein bisschen draußen beim Spielen.

 

Dann war die Mutter wieder da. Ich habe sie noch nie so gesehen gehabt. ‘Der Papa hat einen Unfall gehabt, es ist schlimm.’ Meine Geschwister, die mittlerweile von der Arbeit zurück waren, fragten, was passiert war.

Nicht aufgepasst hat er und ist mit dem Bein vom Kartoffelroder abgerutscht. Regelrecht zerhäckselt ist er worden. ‘Ein Wunder, dass er noch lebt’, erzählte Mutter. ‘Die Ärzte wissen nicht, ob er die Nacht übersteht.’

Sie weinte. Dabei hat meine Mutter nie geweint.

Er ist ein zäher Knochen gewesen. Am Sonntag nach dem Unfall haben wir den Vater im Krankenhaus besucht. Er lag in einem Bett und war so weiß, die das Kopfkissen. Er sah so fürchterlich aus, dass man glaubte, der Mann kriegt die Kurve nicht mehr. Er hat mich gefragt, wie es in der Schule geht. Wie ich den Lehrer finde. Ich war schon erstaunt, denn er hat sich nie für mich interessiert.

Der Vater ist sehr schnell wieder normal geworden. Ach, was rede ich? Der Unfall hat ihn erst richtig zum Ekel werden lassen.

Ist doch ein Irrsinn: Da übersteht er diesen Krieg ohne eine Schramme (ach nee, den Blinddarm haben sie dem Gefreiten Matuschke raus genommen) – und dann stellt er sich auf einem Kartoffelroder so blöde an, dass der ihm ein Bein zerhäckselt.

War übrigens das rechte Bein.

 

Sie haben ihm eine Prothese verpasst, die er angezogen hat, wenn er das Haus verlassen hat. Er konnte nicht mehr richtig anpacken bei der Arbeit. Ich vermute mal, dass er deswegen so sauer war. Nie konnte man es ihm recht machen, immer hat er die Sachen besser gewusst. Nach dem Unfall war er nur noch unleidlich.

Warum gerade ich sein Opfer Nummer Eins geworden bin? Keine Ahnung, wahrscheinlich war ich gerade im richtigen Alter, als das Unglück mit dem Bein passierte.

Ich war der kleine Junge, den er zu seinem Leibeigenen formen konnte. bis ich 15 war, habe ich keinen Schritt getan, über den er nicht Bescheid wusste.

Meistens hatte er etwas an mir auszusetzen. Er hat kontrolliert und geschimpft. Konnte es nicht sehen, wenn ich mal nichts zu tun hatte.

In einer Ecke des Stalls, hinter den Boxen für die paar Pferde, hatte ich eine kleine Ecke, in die ich mich gerne verzog und am Schrauben war. Wenn er mich dort aufstöberte, belferte er los. ‘Das reicht!’ Dann schickte er mich zu den Hühnern, auf den Mist oder zur Mutter, der ich helfen musste.

Manchmal – es war ja nicht so oft – ist er sentimental geworden. Er ging nicht mehr aus dem Haus, saß am Küchentisch mit seinem Stummelbein, las stundenlang in der Zeitung, hörte Radio und trank Schnaps. Er sagte nichts, wir kümmerten uns nicht um ihn. Wenn er die Zeitung durch hatte, blätterte er in einem abgegriffenen Buch über Elbing. Manchmal sagte er, ,Frau, weißte noch?’, sie schaute kurz auf die braune Fotografie, nickte und arbeitete weiter-

Nach dem Saufen zuhause kam das Saufen im Ort. War immer so. Er hat die Prothese angeschnallt, ist durch die Felder und den Wald ins Gasthaus gehumpelt. Ich war ja noch zu klein – aber ich habe schon mit bekommen, dass er oft ein zerhauenes Gesicht hatte, wenn er wieder nach Hause kam. Er war dann ganz freundlich. Ist im Bett verschwunden. Die Mutter hat so getan, als ob nichts wäre.

An so einem Tag hat er mir das Moped mitgebracht. Einerseits habe ich mich sehr gefreut – von einer Java hatte ich ja nur träumen können.

Andererseits hatte ich so ein mulmiges Gefühl.

Und ich hatte Recht.

Als der Vater seinen Rausch ausgeschlafen hatte, war er noch ein größeres Arschloch als je zuvor. Wenn ich heute dran denke, meine ich, manchmal war der Hof die Hölle – und der Alte war der Teufel.”

 

War doch nicht meine Schuld, dass sich der Vater das Bein weg gesäbelt hat. Ich war so klein, verstehste. Heute weiß ich, was da falsch gelaufen ist.

Hätte mich wehren müssen.

Hätte ihm vor den Koffer scheißen müssen.

Hätte die Biege machen müssen.

Aber wie sollte das gehen? Er hat mich nicht mal oft geschlagen, das war gar nicht nötig.

Mach dies! Mach das!

Lass dies! Lass das!

Sowas hat er ganz ruhig gesagt. Ich hatte keine Chance.

Glückliche Kindheit – wenn ich das schon höre! Glückliche Kindheit: Sowas kenne ich nicht. Ich habe versucht, die Tage rum zu bringen, ohne dass es ein Unglück für mich gegeben hat. Froh war ich, wenn ich mich im Stall in meine ,Werkstatt’ verdrücken konnte. Die Schule habe ich gemocht, wenn es Mathe oder Physik gab. Der Rest: Absitzen, die Zeit. Als ich älter wurde, ist es besser gewesen. Dann hat mich der Vater fürs Reparieren gebraucht, da hat er eine Art Respekt gehabt, weil ich es konnte. Er hat mich sogar anpacken lassen, als wir den ersten Fernsehen bekommen haben. Schwer wie Blei war der.

Der Fernseher war gut.

Und Weihnachten.

Weihnachten war immer gut. Der Vater hat einen Christbaum gechlagen. Die Verwandten aus dem Westen haben Lametta geschickt, das hat die Mutter aufgebügelt. Ich habe Gips auf die Äste gegeben, dann sah das aus wie Schnee.

Gut zu essen hat es gegeben. Manchmal war Besuch vom Westen da. Ansonsten haben die Pakete geschickt, wir hatten zu Weihnachten zehn, zwölf Pakete unterm Baum. Die rochen nach gutem Kaffee und so.

Und es war toll: An Weihnachten hat der Vater gesoffen und war nie böse. Das war sehr schön.”