VATERS LIEBLING

sommer zwanzichfuffzehn VIII

“Das mit dem Bein ist ’53 gewesen – oder war’s ’54? Also, im September, ich war gerade in die Schule gekommen, dann war das ’54. Ich weiß noch, dass es ein gutes Jahr für Kartoffeln war.

Ich habe dem Vater morgens noch beim Füttern im Stall geholfen. Nach dem Frühstück ist die Mutter mit mir zur Schule gegangen. Ich war ja noch ganz neu, da hat sie mich eben begleitet. Waren zwei Kilometer über die Felder, durch den Wald und in den Ort rein. Nach der Schule hätte sich mich eigentlich abholen sollen, aber sie war nicht da. Ich bin dann mit den anderen Aussiedlerkindern zurück zum Hof.

Keiner zuhause. Das war komisch. Eine Nachbarin ist gekommen. Ganz freundlich ist sie gewesen, das kannte ich gar nicht von ihr. Ich habe bei ihr Mittag bekommen, habe meine Hausaufgaben gemacht, war ein bisschen draußen beim Spielen.

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Vorsicht, Maschine!

Dann war die Mutter wieder da. Ich habe sie noch nie so gesehen gehabt. ‘Der Papa hat einen Unfall gehabt, es ist schlimm.’ Meine Geschwister, die mittlerweile von der Arbeit zurück waren, fragten, was passiert war.

Nicht aufgepasst hat er und ist mit dem Bein vom Kartoffelroder abgerutscht. Regelrecht zerhäckselt ist er worden. ‘Ein Wunder, dass er noch lebt’, erzählte Mutter. ‘Die Ärzte wissen nicht, ob er die Nacht übersteht.’

Sie weinte. Dabei hat meine Mutter nie geweint.

Er ist ein zäher Knochen gewesen. Am Sonntag nach dem Unfall haben wir den Vater im Krankenhaus besucht. Er lag in einem Bett und war so weiß, die das Kopfkissen. Er sah so fürchterlich aus, dass man glaubte, der Mann kriegt die Kurve nicht mehr. Er hat mich gefragt, wie es in der Schule geht. Wie ich den Lehrer finde. Ich war schon erstaunt, denn er hat sich nie für mich interessiert.

Der Vater ist sehr schnell wieder normal geworden. Ach, was rede ich? Der Unfall hat ihn erst richtig zum Ekel werden lassen.

Ist doch ein Irrsinn: Da übersteht er diesen Krieg ohne eine Schramme (ach nee, den Blinddarm haben sie dem Gefreiten Matuschke raus genommen) – und dann stellt er sich auf einem Kartoffelroder so blöde an, dass der ihm ein Bein zerhäckselt.

War übrigens das rechte Bein.

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Im Räderwerk der Familie.

Sie haben ihm eine Prothese verpasst, die er angezogen hat, wenn er das Haus verlassen hat. Er konnte nicht mehr richtig anpacken bei der Arbeit. Ich vermute mal, dass er deswegen so sauer war. Nie konnte man es ihm recht machen, immer hat er die Sachen besser gewusst. Nach dem Unfall war er nur noch unleidlich.

Warum gerade ich sein Opfer Nummer Eins geworden bin? Keine Ahnung, wahrscheinlich war ich gerade im richtigen Alter, als das Unglück mit dem Bein passierte.

Ich war der kleine Junge, den er zu seinem Leibeigenen formen konnte. bis ich 15 war, habe ich keinen Schritt getan, über den er nicht Bescheid wusste.

Meistens hatte er etwas an mir auszusetzen.Er hat kontrolliert und geschimpft. Konnte es nicht sehen, wenn ich mal nichts zu tun hatte.

In einer Ecke des Stalls, hinter den Boxen für die paar Pferde, hatte ich eine kleine Ecke, in die ich mich gerne verzog und am Schrauben war. Wenn er mich dort aufstöberte, belferte er los. ‘Das reicht!’ Dann schickte er mich zu den Hühnern, auf den Mist oder zur Mutter, der ich helfen musste.

Manchmal – es war ja nicht so oft – ist er sentimental geworden. Er ging nicht mehr aus dem Haus, saß am Küchentisch mit seinem Stummelbein, las stundenlang in der Zeitung, hörte Radio und trank Schnaps. Er sagte nichts, wir kümmerten uns nicht um ihn. Wenn er die Zeitung durch hatte, blätterte er in einem abgegriffenen Buch über Elbing. Manchmal sagte er, ,Frau, weißte noch?’, sie schaute kurz auf die braune Fotografie, nickte und arbeitete weiter-

Nach dem Saufen zuhause kam das Saufen im Ort. War immer so. Er hat die Prothese angeschnallt, ist durch die Felder und den Wald ins Gasthaus gehumpelt. Ich war ja noch zu klein – aber ich habe schon mit bekommen, dass er oft ein zerhauenes Gesicht hatte, wenn er wieder nach Hause kam. Er war dann ganz freundlich. Ist im Bett verschwunden. Die Mutter hat so getan, als ob nichts wäre.

An so einem Tag hat er mir das Moped mitgebracht. Einerseits habe ich mich sehr gefreut – von einer Java hatte ich ja nur träumen können.

Andererseits hatte ich so ein mulmiges Gefühl.

Und ich hatte Recht.

Als der Vater seinen Rausch ausgeschlafen hatte, war er noch ein größeres Arschloch als je zuvor. Wenn ich heute dran denke, meine ich, manchmal war der Hof die Hölle – und der Alte war der Teufel.”

17. juli 2015