ROMINA

sommer zwanzichfuffzehn XXXV

 

Krawittke, der Glückspilz des Abends, sah durch die Panoramascheibe hinunter, wo der Sieger eines Rennens geehrt wurde. Da hinten waren Icke und die Rollstuhl-Ida und hatten es wirklich ungemütlich. Draußen trieben Böen den Regen waagrecht übers Gelände. Das Feld für den nächsten Start formierte sich. Die Tiere nahmen hinter dem Tempowagen die Pace auf, der Sprecher begann seinen Kommentar, ruhig und scheinbar unbeteiligt, später in ein Crescendo taumelnd.

Alles wie immer.

Hier war Udo Krawittkes Heimat. Zumindest, seit Romina unter der Erde lag.

 

Vor sechs Jahren war sie gestorben. Eigentlich hieß sie ja nicht Romina. Aufgewachsen war sie als Annemarie. Annemarie Krawittke, die von allen „Anne“ oder „Ännchen“ gerufen wurde. Doch als sie beschloss, sie würde eine bekannte Sängerin werden, suchte sich Udos Schwester einen schicken Namen aus. Zu der Zeit sang Rocco Granata „Marina, Marina, Marina“ – das gefiel Annemarie, also nannte sie sich „Romina“.

„Romina, Romina, Romina!“

Ja, seine Schwester war schon eine echt schräge Pflanze.

Sie wuchsen in Spandau auf. Immer überfordert die Mutter, mit dunklen Ringen um die Augen und einer schwachen Gesundheit (wann hustete die Frau eigentlich nicht?). Immer müde der Vater – er arbeitete auf dem Bau und hatte schon mit 45 einen kaputten Rücken. Er kam von der Arbeit nach Hause und schlief  nach dem Abendbrot auf dem Canapee mit der Zeitung in den Händen ein.

Die Geschwister hatten trotzdem eine schöne Kindheit. Udo, zwei Jahre älter als Anne, schützte seine Schwester vor allem Bösen. Er war grobschlächtig geraten. Nichts an ihm war charmant. Seine Bewegungen hatten etwas Eckiges, die Augen fielen ihm fast aus dem Schädel, die Ohren standen rotleuchtend ab. Udo hatte Pickel, schlaffe Muskeln, matte Augen und schon mit 14 eine Wampe. Er brachte kein fröhliches Lachen zustande – dabei gefiel ihm die Welt, und er mochte alles Heitere. Aber das konnte Udo nicht zeigen. Die Anderen mochten den schmallippigen Burschen nicht, der obendrein stark schwitzte und unangenehm sauer roch.

Wie anders war da die Schwester. Annemarie: schon als Fünfjährige der Star des Mietshauses. Sie lachte und kicherte und hüpfte und tanzte durch die Tage.

Vor allem sang sie. Annemarie hatte eine laute, feste Stimme. Und diese Begabung! Anemarie musste eine Melodie und einen Text nur einmal hören, dann hatte sie das Lied intus.

Mit zehn kannte jeder im Kiez das Gassenhauer-Mädchen aus dem Hinterhaus. Mit zwölf trat sie zum ersten Mal bei einem Vereinsabend auf, das war der Anfang einer zähen Tingelei an den Wochenenden. Für 15 Mark besorgte sie in einer rauchigen, verlärmten Kneipe die Unterhaltung.

Wochentags der Job am Fließband. Genug Zeit, von der schillernden Welt draußen zu träumen. Von den verglasten Cafépavillons am Ku’damm, von den Clubs mit der rubinroten Samt-Bestuhlung, von den Scheinwerfern im Fernsehstudio. Und sie träumte vom Wochenende, den kleinen Auftritten und den Menschen, die ihre Stimme mochten.

Drei Jahre ging das so. Werktags die Werkbank, samstags der kleine Ruhm. Dann erklärte Romina, sie pfeife auf die Firma – sie wolle Sängerin werden. Mit 16 wurde sie entdeckt. Mit 17 war sie „Romina“ und ein Star.

Und was für einer!

 

Udo – der Alkohol hatte ihn sentimental gemacht – zog die Brieftasche aus dem Anorak, öffnete sie und betrachtete eine knittrige Schwarzweiß-Fotografie. Das war die Romina der ersten Jahre.

Schwarzes schulterlanges Haar. Sie kämmte es jeden Tag ein paar Mal ausgiebig. Mit langsamen geduldigen Bewegungen zog sie die Bürste durch die Seidenglanz-Pracht – Udo sah ihr gerne dabei zu. Später las er ein Buch über Cäsar, danach nannte er seine Schwester nur noch „meine kleene Cleopatra“.

Trotz aller Zierlichkeit war Romina eine unerbittliche junge Frau. Sie arbeitete in den ersten Jahren Tag und Nacht an ihrer Karriere. Nie wurde sie ungeduldig, mit ihrem Lachen nahm sie jedermann für sich ein. Als sie endlich Gesangsunterricht bekam, lernte sie in rasender Eile. Romina hielt sich nicht mit dem Feiern kleiner Erfolge auf. Sie wollte ganz groß werden, also gönnte sie sich keine Pause.

Erste Aufnahmen im Rundfunk, die erste Platte, die ersten Artikel in den Berliner Zeitungen, dann Porträts in den großen Magazinen. Romina wurde auf die Roten Teppiche gebeten. Sie lächelte so hinreißend, sie war so natürlich. Sie war Berliner Gör und Großstadt-Vamp in einem.