LEBEN

 „2017”*, Folge 31, 18. Oktober. Goldener Herbst. 

 

Gut über die 50 – er trägt ein verknittertes graues Sakko und eine taubenblaue Hose, die gebügelt werden müsste. Der rechte Arm wird von einer braunen Aktentasche aus Leder nach unten gezogen.

Die Tasche hat er immer noch – die Frau, die sie ihm geschenkt hat, ist dem Mann schon vor Langem weg geschieden worden.

Von da an war er allein mit seinem eintönigen Leben. Seit Jahren steht er um fünf an der Haltestelle – auch am Samstag-  und nimmt den frühen Bus zum Amt. Dort steigt er mit schweren Schritten in den zweiten Stock, latscht über den nach Desinfektion riechenden Gang, an der Herrentoilette vorbei, am Damen-WC vorbei, dann öffnet er die Tür, auf der sein Name und der seines Kollegen stehen.

Der Mann gießt die Blumen, öffnet die Fenster, brüht Wasser auf und gießt es zum Kaffeepulver in seiner Tasse. Auf der steht „Grüße aus Grafenau“, der Kollege hat sie nach einem Urlaub im Bayerischen Wald mitgebracht.

Der Mann wird eines der Stullenpakete auswickeln (das andere hat er für die Mittagspause vorbereitet) und Vollkornbrot, belegt mit Scheibenkäse und Original-Salami, essen. Es wird ihm nicht schmecken und nicht unangenehm sein. Irgendwann wird er bemerken, dass er das Radio noch nicht eingeschaltet hat.

Antenne Brandenburg. Sehr aufgedrehte Menschen erzählen, was für ein schöner Tag ist. Die Musik ist modern, aber noch erträglich.

Der Mann wird einen zweiten Kaffee zubereiten, mit einem Küchentuch über seinen sauberen Schreibtisch wischen, die Aktentasche in einen toten Winkel hinter dem Aktenschrank lehnen. Er wird einen Seufzer tun und die Vorgänge ordnen, die er an diesem Tag erledigen muss.

Und obwohl er in diesem Augenblick – wie er so einsam in der Behörde hockt und sich an die Arbeit macht – den Eindruck eines abgrundtief traurigen Mannes macht, wird das doch der beste Moment seines Tages sein. Es ist ruhig, das Büro gehört ihm, er hat das Gefühl, gebraucht zu werden, kein alberner Mitarbeiterlässt ihn spüren, dass für ihn das Rennen gelaufen ist. Er wird meinen, dass er am Leben ist.

Deswegen fährt der Herr in dem alten Sakko jeden Morgen um fünf zur Arbeit.

Auch am Samstag. Das waren die Highlights der Woche. Das Radio lief die ganze Zeit, in der Mittagspause ging der Mann in eine Pinte und trank zwei Bier. Nachmittags hörte er Bundesliga im Radio. Danach packte er seine Siebensachen in die Aktentasche und marschierte zu Fuß nach Schöneberg zurück. Er trank hier ein Bier und da ein Bier, er kaufte Wein im Supermarkt, er kochte sich etwas und machte es sich vor dem Fernseher gemütlich. Meist schlief er im Sessel ein.

Sonntags hatte er frei. Erst montags um halb fünf rasierte er sich wieder.

Das ist von Eddy geblieben.

 

*“2017“ beginnt in der Kalenderwoche 38 des Jahres 2017 und endet am 31. Dezember. Thema: 105 Tage Deutschland. Unterwegs in der „Heimat“.