KINDHEIT

„2017”*, Folge 62, 18. November. “Durchs Land”/IV.

 

München. Schwer, der Himmel. Unter eine dunkelgraue Decke  haben sich helle Quellwolken geschoben, es windet in der kalten Stadt. Leichter Regen ist angesagt, später wird es ein bisserl schneien.

Hans Krohn steht in der Zugspitzstraße und denkt frierend an die Heldenverehrung im Lande.

Hier ist im Haus Nummer sechs Franz Beckenbauer, Sohn eines Postsekretärs, aufgewachsen. Ein überschaubares Leben ist das gewesen.

Nur dass der Franz anders gewesen ist als seine Altersgenossen. Der hat’s mit dem Fußball gehabt. Mutter Antonie flickte klaglos die Hosen, wenn sich der Franz vergessen hatte und in der Schulkleidung zum Kicken hinreißen ließ.

Er war immer schon der Beste am Ball.

Und wurde zu einer „Lichtfigur“. Libero. Weltmeister. Jedermanns Liebling. Lächelnder Günstling der Götter. Präsident und Botschafter, der Mann der Frauen, der Macher des „Sommermärchens“, der Immer-Gewinner.

Der Größte.

Es ist noch nicht so lang her, da sagte Franz Beckenbauer: „Alle Sonntage der Welt sind in mir vereint. Wenn man so ein Leben hat in seinen ersten 70 Jahren, angefangen aus dem Nichts kommend und dann durch den Fußball die Kurve nach oben zu kriegen…Und der Fußball ist dabei auch noch gesellschaftsfähig geworden und hat heute einen Stellenwert, dass sich die höchsten Politiker damit beschäftigen. Und da war ich dabei. Ist das Leben nicht wunderbar?“

Das war mal. Hans Krohn fröstelt. Soweit er weiß, ist Beckenbauer zur Zeit in Südafrika und hat Angst vor dem, was noch kommt. Er soll geschmiert und getrickst und geschummelt und mit Dollar-Millionen Schmu gemacht haben. Fahnder sind hinter ihm her. Die Journalisten, die ihm mal die Stiefel geleckt haben, jagen ihn.

Des „Kaiser“ Mutter ist gestorben, sein Sohn auch. Das Herz macht nicht mehr so recht mit, zum zweiten Mal muss er operiert werden. Man munkelt,er sei dick geworden und menschenscheu.

Das Denkmal wird gestürzt, die Legende zu Lebzeiten zerfieselt.

Nichts Neues im Lande.

Hans Krohn tapert gedankenverloren von der Zugspitzstraße in Richtung des Grünwalder Stadions. Er kauft an einem Kiosk die „Bild“, betritt ein Café und schlägt, nachdem er Apfelstrudel und Tee bestellt hat, die Zeitung auf.

Seite 7:

Boris Becker wird in zwei Tagen 50. Schon jetzt hat er ein großes Interview gegeben. „Lebens-Bilanz – „Mein Name ist Herr Becker“.

Becker – er ist schwerfällig geworden und hat eine ungesunde Durchblutung, nach mannigfachen Operationen an Becken und Beinen humpelt er und schluckt viel zu viele Schmerztabletten. Er hat keine Kohle mehr und Abermillionen Schulden.

Boris Becker wird gerade allenthalben enteiert. Er sagt:

„Das ist Rufmord, das ist versuchter Totschlag. Es geht darum, einen Mann und sein Lebenswerk kaputt zu machen.“

Hans Krohn legt das Blatt beiseite. Er blickt auf den Wettersteinplatz.

Wirklich. Leichter Schneefall.

Ein abweisender Tag. Gemacht für trübe Gedanken.

Legenden, denkt Krohn. Legenden haben’s gar nicht so leicht bei uns. Helden mit einer kurzen Halbwertzeit sind sie.

 

Der Vater klingt jetzt gar nicht betrunken. Eine leise Stimme hat er. Das ist keine friedliche Erzählung eines netten Opas aus seinen jungen Jahren, das ist eine Abrechnung. Sebastian Krohn ist im Zwist mit seinem Leben.

„Kindheit! Du weißt doch gar nicht, wovon Du sprichst.

Ich habe Dir Deine Kindheit bezahlt. Deine Mutter und ich haben dafür gesorgt, dass Du das bekommen hast, was wir nicht kannten.

Glaubst Du, Deine Mutter hat eine Kindheit gehabt? Ja, sicher, ein paar Jahre ist sie in ihrem Riesengebirge geschützt gewesen. Da ist sie Ski gelaufen und hat Heidelbeeren gepflückt. Aber dann ist auch für sie das alles zu Ende gewesen. Du wirst sie nicht klagen hören – über Vertreibung und Hunger und kein Vater und solche Sachen.

Man jammert nicht – so haben wir es gelernt.

So hat es unsere Generation erlebt. Kindheit war nicht vorgesehen.

Wir waren fünf. Meine Mutter und vier Kinder. Sie hat mit ihrem Mann vier Kinder gezeugt, das wäre noch weiter gegangen. Aber ’43 ist er nicht mehr aus dem Krieg gekommen. Und dann war sie allein mit den Kindern. Ist von Düsseldorf in den Süden gegangen, wir sind in einem kleinen Dorf im Allgäu aufgewachsen.

Ich habe die Nazis gemocht. Bei denen war ich gut aufgehoben als Pimpf. Es gab oft was zu essen, ich fühlte mich akzeptiert und habe auch dran geglaubt, dass der Hitler den Krieg doch noch gewinnen wird.

Ich war klein und hungrig, verstehst Du?

Nein, Du verstehst nicht. Ihr urteilt doch alle über etwas, das man nicht verstehen kann, wenn man es nicht erlebt hat.

Du kennst keinen Hunger. Du weißt nicht, wie es ist, wenn man als Junge mit ansieht, wie die Mutter verrückt wird. Sie war da plötzlich ohne Mann in dem fremden Bauernkaff, mit vier Kindern an der Schürze. Sie hat getrunken, wenn sie etwas bekommen hat. Sie hat angefangen, mit sich Gespräche zu führen.

Für uns war es irgendwie egal, ob dieser Krieg im Gange war oder nicht. Zu den Pimpfen ging ich nicht mehr, weil sich das erledigt hatte. Als man sagte, Deutschland hat kapituliert, habe ich’s nicht kapiert.

Habe nur gemerkt, dass für uns der Hunger noch schlimmer wurde.

Meine Mutter war im Dorf ganz unten. Mit der wollte niemand etwas zu tun haben. Sie konnte auch nichts bieten, ärmer als sie – das ging nicht.

Im Herbst haben wir nach dem Ende der Ernte auf den leeren Feldern nach Kartoffeln gesucht. Der ältere Bruder und ich haben manchmal bei den Bauern eine Arbeit bekommen – da gab es abends etwas zu essen, nichts Besonderes, aber die Mutter hat sich gefreut.

Eines Tages hat sie sich ausgezogen und ist singend nackt über die Dorfstraße gelaufen. Sie haben sie eingefangen und weg gebracht.

Jetzt mussten mein großer Bruder und ich zusehen, wie wir die Jüngeren über die Runden brachten.

Als die Mutter wieder kam, hat sie nicht mehr mit sich geredet.

Mit Anderen auch nicht.

Sie war stumm. Hat noch fast 30 Jahre gelebt, aber gesprochen hat sie fast nie mehr. Manchmal lachte sie – dabei war gar nichts Lustiges passiert. Manchmal war sie tagelang verschwunden. Wir haben uns dran gewöhnt. Der ältere Bruder ist schon sehr bald von zuhause weg – später ist er in Kanada gelandet. Ich habe als Postbote angefangen.

Wart‘ mal, ich habe da ein Foto.“

Sebastian Krohn – nun war ihm die Trunkenheit anzumerken, weil er sich am Bücherregal festhalten musste – tastete sich zu seinem Stehpult. Er zog eine kleine Schublade auf, kam mit einer Zigarrenkiste voller Fotos zurück. Hans hatte die Aufnahmen noch nie gesehen, der Vater würde sie ihm auch nicht zeigen. Er kramte, fand das Gesuchte und reichte das Bild seinem Sohn.

Da stand der Vater.

In Uniform.

Mit einem Postler-Käppi, das er verwegen schräg in die Stirn geschoben hatte. Die Tasche hing schwer und voll mit Briefsachen an seiner Schulter.

Das störte den jungen Mann nicht. Er hatte ein schmales asketisches Gesicht, die Haare waren etwas zu lang. Ein markantes Kinn, sinnliche Lippen.

Ein verteufelt gut aussehender hungriger junger Mann.

Der lachte.

Und wie er lachte.

Fröhlich.

Neugierig.

Erobernd.

Er war ein junger Held, der hinaus ziehen würde, um zu gewinnen.

Hans Krohn hatte nicht gewusst, dass dieses Lachen in seinem Vater steckte.

Er schämte sich.

 

*“2017“ beginnt in der Kalenderwoche 38 des Jahres 2017 und endet am 31. Dezember. Thema: 105 Tage Deutschland. Unterwegs in der „Heimat“.