GRANT

Startschuss: 17. August 2019, 6.00 Uhr. Zielschluss: 18. August 2019, 12.00 Uhr. Dazwischen: 160 Kilometer zu Fuß rund um Berlin. Das Event heißt “Mauerweglauf”. In “Vettensjournal” das Protokoll der Vorbereitung. Es beginnt am 9. März 2019 und endet am 17. August: 22 WOCHEN.

„Was schreibst Du da?“

„Nur ein paar Notizen. Ist nicht wichtig.“

„Wenn es nicht wichtig ist, musst Du es nicht aufschreiben.“

„Naja, vielleicht brauche ich’s irgendwann; man weiß ja nie.“

„Wie jetzt? Ist es wichtig oder ist es nicht wichtig?“

Sabrina geht ihm auf die Nerven. Sie will doch sonst nie wissen, was er in seiner Kladde notiert. Jetzt – zum ersten Mal, seit sie zusammen sind – fragt sie danach. Den ganzen Tag schon ist sie anstrengend gewesen – das jetzt passt.

Er seufzt.

„Da brauchst Du nicht stöhnen. Lies‘ einfach vor, was für tolle Sätze Dir eingefallen sind. Ist doch nicht so schwer.“

Er weiß, er müsste jetzt gelassen bleiben. Aber er schafft es nicht mehr. Na gut, sagt er, sie habe es so gewollt. Er lese ihr den Schmarrn vor, und danach müsse auch mal Ruhe sein.

Sie strahlt. Das sei ein Deal.

Er blättert zurück (ja, er hat in den letzten Minuten unter Druck geschrieben. Sie hatte vor ihrem Cappuccino gesessen und sich über andere Bistro-Gäste lustig gemacht, sie hatte über die Bedienung geschimpft, über die Schmerzen an der OP-Narbe gemosert, sich über die Preise beim Einkaufen mokiert und auch das Wetter bemängelt. In der Zeitung stünde nur Dreck, hat sie genölt. Sie steigerte sich in ihren Zorn hinein, und er hatte versucht sie zu überhören. Hatte sein Notizbuch aufgeschlagen und zu schreiben begonnen. Ohne groß nachzudenken. Ohne zu wissen, wohin in die Gedanken führen würden. Er hatte geschrieben, weil ihn das von ihr weg brachte). Liest vor:

Dachau, immer noch kein Frühjahr. Graues Land.

So grantig habe ich Sabrina noch nicht erlebt. Sie verheert mit ihrer schlechten Laune. Kein Entkommen, für niemanden. Da hilft es auch nicht zu wissen, dass die Ursache für die Attacken die Operation ist. Gibt ja wohl Leute, die behaupten, dass die Narkose-Mittel den Menschen vergiften können. Wenn das so ist, hat Sabrina die volle Dosis bekommen.

Wie ein Tsunami.

Wie eine Lawine.

Wie eine Schlechtwetter-Front.

Sie will den Tag schlecht machen.

Lachen verboten. Heiterkeit unerwünscht. Hoffnung tabu.

Dachau, grau in grau.

Sie zerstört und weiß es. Zerstört, obwohl sie es nicht will. Zerstört und lässt mir keinen Fluchtweg.

Sie will streiten.

Und ich gucke sie fassungslos an: Ist das die Frau, ohne die ich mir ein Weitermachen nicht vorstellen konnte, vor ein paar Tagen im Krankenhaus? Ist das die Frau, die man begehren würde? Ist das die Einzigartige, die Schöne, die zu Liebende, die Retterin?

Nein, ist sie nicht.

Nein! Nein! Nein!

Doch.

Hans Krohn legt das Notizbuch beiseite. Schaut zu Sabrina hin.

„So siehst Du mich also?“, fragt sie.

„So erlebe ich Dich heute“, sagt er.

„Aha“, sagt sie.

„Na dann.“

Es ist kein guter Tag, echt nicht. Resigniert fügt sich Krohn und wartet, dass der Tag zu Ende geht.