ALLEINSEIN

TANZ DER VIREN

1. Juni

1944 kam sie im sibirischen Wald zur Welt, zweimal war sie im Krankenhaus, einmal wurde ihr die Zivilisation gezeigt. Nach einer Woche hatte sie die Nase voll von Autos und Menschen und Städten. Kehrte zurück in die Taiga und war froh, wenn man sie allein ließ.

Ranger sehen zweimal im Jahr nach, ob Agafja Lykowa noch lebt. Mal hatte sie Besuch von einem Journalisten, doch sie mochte ihn nicht recht leiden. „Mit einem Heiden zu essen ist schlimmer, als wenn ein Hund von meinem Teller frisst. Man muss den Teller dann zerbrechen.“

Und so lebt sie eins mit der Natur in ihrer wetter-ergrauten Hütte. Von dem, was die Äcker hergeben: Kartoffeln, Zwiebeln, Rüben, von Kernen und Pilzen, Fischen und ab und zu einem Hasen, der ihr in die Falle geht. Im Winter hat es minus 35 Grad, im Sommer quälen Myriaden von Mücken die Lebewesen.

Agafja Lykowa ist immer noch da. Liest in einer abgegriffenen Bibel, brummelt in einem Russisch aus einer vergangenen Zeit vor sich hin, trägt Kopftuch und Kappe, zwei oder drei übereinander gezogene Kittel und dicke Filzstiefel.

Dass es Corona gibt, weiß sie nicht. Die Ranger haben sie vor Kurzem besucht und ihr nichts erzählt. „Wir wollten sie nicht beunruhigen. Sie ist wie eine Sternschnuppe, die nicht verglüht.“