WARTEN

TANZ DER VIREN

4. Mai

Bahnhofsvorplatz Oberschleissheim. Im kleinen Park sitzt auf der Gitterbank neben dem Papierkorb die alte Frau Weißgerber. Neben sich hat sie die rostige Einkaufskarre gestellt, auf die mit einem Expanderband eine Kiste geschnallt ist. In der Kiste neun leere Flaschen. Frau Weißgerber wird sie zum Getränkemarkt bringen und neues Bier besorgen.

Das hat Zeit. Sie hat viel Zeit. Erstmal macht sie hier Pause.

Es ist ein betriebsamer Montagvormittag. Lebhafter Verkehr, Busse und Bahnen fahren nach Plan. Über den Platz trippelt ein älterer Chinese mit einer Tüte aus der Tierhandlung. Ein Mann, mit Krücken unterm Arm, humpelt zu den Gleisen. Ihm kommt ein Mädchen mit grünen Haaren entgegen, sie hat ein Red Bull in der Hand. Einer, der im Supermarkt war, bleibt unvermittelt stehen, lacht und sagt „Mei, hab‘ ich ganz vergessn“, dann zieht er sich die Schutzmaske vom Gesicht. Hinter ihm stehen sie vor dem Friseur Schlange – der hat nach langer Zeit wieder offen und ist für die nächsten Tage ausgebucht; wer sich die Haare schneiden lassen will, muss sich vorher die Hände sauber machen, dann wird ihm der Kopf gewaschen, Rasieren und Sonderwünsche sind nicht drin.

Frau Weißgerber ist sauber und arm. Helle Softshelljacke aus Polyester, rostbraune Bundfaltenhose im Cropped Schnitt mit Elasthananteil, Herrenslipper. Graue Haare, mittig nach hinten gescheitelt. Kein Makeup. Auf dem Schoß eine Einkaufstasche mit dem Logo des Krankengymnasten.

Sie sitzt sehr ruhig da, nur die Augen wandern ständig und kontrollieren die Umgebung. Manchmal dreht Frau Weißgerber den Kopf, langsam und vorsichtig. In ihrem Gesicht ansonsten keine Regung. Sie ist eine Frau, die dauernd Schmerzen aushalten muss, sich das aber nicht anmerken lässt.

Die Lippen sind Striche. Der Mund hat sich das Reden und das Lachen abgewöhnt. Frau Weißgerber muss nicht mehr sprechen. Der Mann ist vor zehn Jahren gestorben, mit den Kindern hat sie keinen Kontakt mehr. Jetzt sind auch noch die Nachbarn in der Isolation, beim Krankengymnast war sie schon lange nicht mehr, jetzt ist es ganz still geworden.

Sie wird das Pfand bekommen, frisches Bier kaufen, wieder nach Hause schlurfen. Das wird ziemlich anstrengend sein.

Dann wird Frau Weißgerber die Jacke an die Garderobe hängen, in die Pantinen schliefen, den Fernsehapparat einschalten und sich hinsetzen. Um vier gibt es das erste Bier, drei schafft sie.

Übermorgen muss sie wieder auf Tour.

Aber noch sitzt sie an diesem Montagvormittag vor dem Bahnhof und sieht dem Mädchen mit den grünen Haaren zu, das Red Bull trinkt und sich hernach eine Zigarette anzündet.

Niemand wird erkennen, was Frau Weißgerber denkt.

Nur ihr rechter Fuß wird wippen. Immer ein kleines bisschen, unablässig.

Das wenigstens ist am Leben geblieben.