SIE

Startschuss: 17. August 2019, 6.00 Uhr. Zielschluss: 18. August 2019, 12.00 Uhr. Dazwischen: 160 Kilometer zu Fuß rund um Berlin. Das Event heißt “Mauerweglauf”. In “Vettensjournal” das Protokoll der Vorbereitung. Es beginnt am 9. März 2019 und endet am 17. August: 22 WOCHEN.

Sie atmet jetzt ruhig und ungestört. Sabrina hat die Beine angewinkelt, liegt auf der Seite, der Hintern berührt Hans Krohns Hüfte. Er lässt sich ziellos durch Steinbecks Welt treiben, ist aber mit den Gedanken nicht beim Buch. Seine Rechte streichelt über Sabrinas Hüfte, sie räkelt sich wie eine Katze, die sich so etwas gern gefallen lässt.

Sabrinas Sinnlichkeit hat ihn schon berauscht, als sie noch nicht zusammen waren. Er erinnert sich, wie er sie zum ersten Mal sah: Da verkaufte sie auf dem Wochenmarkt von Neuruppin italienische Spezialitäten. War ja kein heimeliger Ort, die Karl-Marx-Straße vor der Marienkirche. Waren auch per se keine herzlichen Menschen, die Brandenburger an einem wolkenverhangenen Samstag. Aber an Sabrinas Stand wurde gelächelt. Die Leute, sintemal die Kerle,  bekamen eine ungewohnte Schwatzhaftigkeit, sie lachten und – so gut sie es konnten – sie flirteten mit der Schwarzhaarigen, die so nett das R rollte und die Wörter an die falschen Stellen in den Sätzen platzierte.

Das war eine Frau, wie man sie nicht so häufig hat im Norden. Sie gurrte und lachte kehlig, sie machte der Stadt schöne Augen. Krohn – kein Vegetarier, aber mit Fleisch hat er es nicht so – hat bei Sabrina Salami und Mortadella gekauft, dann konnten sie reden.

Sie haben sich wieder getroffen, haben zusammen gelebt, sie haben erregende Monate miteinander gehabt. Dann hat er sich nicht getraut, mehr zu wollen – und sie ist heim gefahren nach Italien. Hat später eine Karte geschickt, sie lebe nun in Südtirol, wenn er wolle, solle er sie doch einmal in den Bergen besuchen.

Er hat sich wieder nicht getraut. Seine Zeit in Berlin hat er abgelebt – bis es nicht mehr ging. Bis er jederzeit in der Stadt überall am falschen Fleck war.

Dachauer Moos. Verfallendes Torfstecherhaus im Nirgendwo. Mit ein paar Möbeln, den Büchern, dem Computer und einem japanischen Wundermesser zog er ein. Hat hier ein wenig repariert, dort eine Kleinigkeit ausgebessert, hat seine Zeilen geschrieben. Die Verlage zahlten nicht viel, es reichte gerade mal so, aber es reichte. Krohn ist vielleicht ein bisschen wunderlich geworden, er war ein alternder Mann von großer Zähigkeit und mit einem klein gelebten Zorn.

Manchmal – ja das gab es schon – trieb er sich draußen herum und hatte einen glückhaften Augenblick. Oder – ja, das konnte er sich erlauben – er wanderte tagelang durch die Berge und vergaß alles Zweifeln, weil er so eins war mit dem, was er tat.

Die meiste Zeit kam er mit seinem Traurig-Sein ganz gut klar.

Und eines Tages stand Sabrina an der Tür. Sie ging nicht wieder.

So war das.

Und so ist das:

Sabrina schläft, aber sie schläft sich nicht gesund. Die Krankheit frisst ihr die Kraft weg, auch wenn sie noch so mutig dagegen lebt. Die Krankheit lässt Sabrina nicht aus dem Griff. Mal wird die Frau ganz euphorisch, weil sie seit Stunden ohne Schmerzen ist. Weil sie den Einkauf erledigt und im Garten die Zwiebeln steckt. Weil sie die Sonne auf den bloßen Armen genießt, dass sich die flaumigen Härchen aufstellen.

Und dann kriecht aus dem Hinterhalt die Krankheit und schließt den Griff. Zwingt Sabrina nieder. Treibt ihr den Schmerz in die dunklen Augen und bringt die Angst mit.

Da liegt sie und schläft. Bald muss sie ins Krankenhaus. Bald werden sie Sabrina betäuben und aufschneiden. Wenn sie sie retten wollen, müssen sie ihre Schönheit aufschneiden.

So ist das.