KARIN VOM ZOO

berlin, 29.dezember 2016     —-    winter ’16/17, Folge V.

Karin, Jahrgang ’44, traut sich nicht mehr so recht raus aus ihrem Haus in Britz. Schon gar nicht, wenn es glatt und kalt ist. Dann zieht sie sich in den zweiten Stock zurück und erlebt die Tage des zu Neige gehenden Jahres 2016 zusammen mit „Mauzi“, dem Telefon und dem Fernseher.

Sie hat Angst vor der Stadt, sie versteht die modernen Zeiten nicht. Sie ist einsam.

Schon der Gang zum nahen Supermarkt: ein Abenteuer . Karin schlüpft in den blauen Anorak, ermahnt „Mauzi“ zum Artig-Sein. Sie steigt in die Winterstiefel und tastet sich vorsichtig am Stiegengeländer hinunter ins Erdgeschoss.

Sie muss den Schlüssel zweimal drehen – man kann ja nicht vorsichtig genug sein. Zerrt den Rollator aus der Mauernische, kurvt ums Haus und linst zum Gartentor.

Ah ja, ihr Bekannter ist schon da. Dann isses ja gut.

Wie immer, wenn sie zum Einkaufen will, hat sie ihn angerufen. Ob er sie begleiten könne. Er wisse schon: ihre Panikattacken.

Mit ihm an der Seite schafft Karin dann den Einkauf ganz ordentlich. 300 Meter stadtauswährts auf der Mohriner Allee. Das Trottoir ist zwar holprig, aber Karin ärgert sich nicht sonderlich drüber, schließlich hat sie ja eine Menge zu erzählen. Das hat sich angestaut in ihrer langen Einsamkeit. Wenn sie schon mal mit jemandem redet, will sie auch los werden, was ihr alles durch den Kopf jagt. Karin ist ja nicht doof und sie beobachtet wach, was draußen in der Welt passiert. Da macht sie sich dann schon ihre Gedanken – und wenn sie wen trifft, bricht alles aus ihr heraus.

Das Einkaufen ist fix erledigt. Karin braucht nicht viel. Nudeln, ein bisschen Gebäck, Saft, Butter, Brot, Fertiges für die Mikrowelle. Sie trinkt keinen Kaffee, sie raucht nicht, Alkohol mag sie nicht. Sie hat keine großen Ansprüche, wenn sie den Kühlschrank füllen will.

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Diesmal ruft sie den Bekannten nicht wegen der Tour zum Supermarkt an. Sie wolle in die Stadt, zum Breitscheidplatz.  „Ick brauch Dir, Du weest schon: die Panikattacke.“

Was sie in der Stadt wolle?

Naja, wegen des Anschlags und so. Sie habe das im Fernsehen mitbekommen, dass da ganz viele Menschen ‘ne Kerze aufstellen und um die Toten trauern. Da müsse sie auch hin. Sie habe schon ein Schild gemacht, das muss nun in die City gebracht werden.

Breitscheidplatz – das ist schließlich nicht irgendwo. Das ist ihre zweite Heimat. Da, wo sie „Knut“ besucht hat. Bisher ist der Breitscheidplatz was Schönes gewesen für Karin.

Jetzt, wo diese schrecklichen Sachen passiert sind, muss sie hin. Mal nach dem Rechten sehen. Tun, was man so tun muss.

„Wann haste Zeit?“, fragt sie, und es klingt wie ein leiser Befehl.

Morgen, sagt der Bekannte. Ist ja wohl ganz gut, wenn man so etwas macht. Wegen Terror und so. Also, morgen, das geht. Er ist schließlich Rentner, da kann man sich die Zeit einteilen.

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Es ist, wie immer, die Fahrt in eine andere Welt. Britz, da fühlt sich Karin zuhause. Neukölln, das ist schon aus ihrer Welt. Tempelhof und Kreuzberg, Schöneberg und Charlottenburg – das waren immer kleine Reisen.

Der Bekannte findet einen günstigen Behinderten-Parkplatz in der Nähe der Gedächtniskirche. Karin müht sich aus dem Auto, mit dem Rollator kommt sie ganz gut voran.

Der Asphalt glänzt nass, es sind viele Passanten unterwegs. Am Weihnachtsmarkt riecht es so nach Bratwurst, dass man Hunger kriegen möchte.

„Siehste, jetzt steh’n se an jeder Ecke“, grummelt Karin und deutet auf die Polizisten. Dann sieht sie die Beton-Absperrungen. „Jetzt kann da keen Laster mehr rin. Hätt‘ ihnen auch früher einfallen können, den Herrschaften.“

Auf die „Herrschaften“ schimpft sie des Öfteren, das sind die Politiker, die ihren Job nicht können.

Karin und ihr Bekannter kommen an der großen Kerzeninsel gegenüber vom „Bikini Berlin“ an. Zwei Spanierinnen fotografieren sich – lächelnde Schönheiten im Vordergrund sind sie, freuen sich über das romantische Geflacker als Hintergrund. Das Foto wird sofort versandt. Eine Dame weint. Sonst schweigende Frauen und Männer, auch die paar Kinder halten still. Ein junges Paar stellt die Einkaufstüten auf den Boden und kommt nicht weiter.

„Janz schön schlimm“, sagt Karin und zündet die mitgebrachte Kerze an. Sie blickt sich um, fragt den Bekannten, wo er denn ihr Bild platzieren würde. Er deutet auf den Boden. Quatsch , meint sie, da würde das Bild ja gleich verdeckt.

„Soll’n de Leute morjen ooch noch seh’n.“

Sie hat eine Stelle entdeckt. Gut, dass sie Pins im Gepäck hat. Karin müht sich zu dem mit Latten verkleideten Müllcontainer. Heftet ihr „Bild“ an.

Sie hat sich echt Mühe gemacht. Auf blauem Bastelkarton hat Karin die kursiven Blockbuchstaben säuberlich mit schwarzem Markierstift geschrieben:

Trauert um die Opfer

und mit der

Polnischen Familie

Denn – sagt sie – es ist ungerecht, dass man sich ausschließlich um die Toten und Verletzten vom Breitscheidplatz kümmere. Und dabei den Vater in Polen vergesse, der vor ein paar Jahren seinen ersten Sohn bei einem Unfall verloren hat. „Und nu haben’se den anderen Jungen auf Arbeit erschossen. Da sitzt die Familie in Polen und wartet auf den Mann mit seinem Lkw – dabei hat der Verrückte den umjebracht.“

Schön hat sie die Schrift hin bekommen. Dazu an den Ecken des Kartons gelbe Sterne aufgeklebt und das Berlin-Logo mit der roten Rose, das sie für solche Aktionen in der Schublade liegen hat. Sie hat ihren Bekannten gebeten, er solle die Pappe in so einem Spezialladen einschweißen lassen, sodass sie den Berliner Winterregen aushält. Nun pinnt sie ihre Botschaft auf die Latten.

Trauert um die Opfer und mit der Polnischen Familie

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Job erledigt.

Karin lässt sich zurück in den Süden der Stadt chauffieren. Berlin ist an diesem Nachmittag ausgesprochen unwirtlich. Eine richtige Drecks-Stadt. In Neukölln kannste froh sein, wennde schnell voran kommst. Da haste das Gefühl, Du juckelst durch den Basar.

Karin schimpft auf die Türken und die Ausländer. Der Bekannte nickt.

Dann passieren sie das Ortschild von Britz. Noch 100 Hausnummern auf der Mohriner Allee, dann ist Karin zuhause. Sie lässt sich mit dem Rollator helfen. Schließt mit doppeltem Dreh auf, steigt in den zweiten Stock, setzt Wasser für einen Tee auf, schaltet den Fernseher ein und sinkt in den abgewetzten Sessel.

„Mauzi“ springt in Karins Schoß. Frauchen ist erschöpft. Das Wasser kocht, aber Karin bleibt sitzen. Sie nimmt noch nicht teil am TV-Programm. Sitzt einfach da und ist ganz froh, dass sich heute etwas getan hat. Ist alles gut gegangen, hat sich nach Leben angefühlt.

Ihr Blick bleibt am Hochzeitsfoto hängen. Die junge Frau, die da mit der Kamera flirtet und von ihrem mageren Mann angeschmachtet wird – das ist sie. Das war sie mal, da war sie wohl 28.

Und wenn sie sich recht erinnert, hat die junge Frau auf dem Foto damals noch Hoffnungen gehabt. Sie war schließlich jung, sie träumte von dem, was da kommen würde. Jetzt, so hat die kesse Braut auf dem Foto gemeint, würde alles beginnen. Alles: die guten Tage eben.

Nun ist sie 72 und sagt, wenn sie denn einer fragt:

„Scheiße war dit meistens. Kann’s nicht anders beschreiben. Scheiße.“

Dann hält sie inne.

„Bis auf die Zeit mit Knut.“

Nächste Folge: Falsche Zeit, falscher Ort