WEIMAR-BLUES
weimar, 10. november 2016 — Deutschlandreise, Folge 2 — Das Theater der Stadt verschwimmt in der Bläue der Nacht. Weimars Bürger schlappen zur Bus-Haltestelle. Sie haben müde Gesichter und sehen aus wie falsch eingekleidete DDR. Sie steigen in ihren Bus, setzen sich, wischen die beschlagene Scheibe sehen hinaus ins nässende Weimar, die Scheibe vernebelt sich wieder, sie lassen es sein und blicken ins Leere. Der Bus fährt und bringt sie in die Plattenbauten, die keine richtigen Plattenbauten mehr sind.
Eine von ihnen ist Frau B., die im Goethehaus oberhalb des Treppenaufgangs steht und die Touristen in den Rundgang einweist. Frau B. raucht so viel, dass sie dran sterben wird, sie ist mit Goethe aufgewachsen. „Der Lehrer hat uns immer wieder ins Museum mitgenommen und erzählt, wie das war mit dem Goethe und dem Schiller.“
Gute Zeiten waren das. Die Schüler durften noch bis zum Katheder des Dichters gehen und die Folianten in den zimmerhohen Regalen berühren. Danach sind sie über den Platz vor dem Goethehaus, den Frauenplan, gerannt und haben die Fremden geärgert. Es hat nach Bratwurst gerochen, nach Koks-Brikett-Feuer und nach Zweitakter.
Heute machen die Fahrensleute immer noch Reklame, sie würden die besten Würste Thüringens braten. Immer weniger Touristen haben Fotoausrüstungen mit schönen Objektiven vor dem Bauch. Die Menschen knipsen die Stadt mit ihren Handys platt. Die Japsen mögen’s am liebsten mit den Selfie-Gestängen. Die Kids verschicken sich selbst aus Weimar in den Rest der Welt und finden es irre lustig.
„Klar sind wir verbittert. Es ist wie früher. Schau‘ doch mal hinter den Vorhang. Da haben sie uns abgestellt. Es ist wie früher. Hier wir – da die Welt, wie wir sie auch gerne hätten.“
Frau B. sitzt im Bus und lässt sich hinauf zu ihrer Zweiraum-Wohnung schaukeln. Sie wird noch einholen gehen in der Kaufhalle, die jetzt der „Penny“ ist, sie wird Zigaretten und Rotwein zum Überstehen der Nacht kaufen. Fernsehen, auf der Couch einschlafen, später den Fernseher ausknipsen und ins Schlafzimmer wechseln, morgens viel Schminke, ein starker Kaffee und zwei Scheiben Marmeladenbrot, hinunter in die Stadt, Position beziehen an der Treppe.
Alles nicht der Rede wert. Keine großen Aussichten. Da braucht man nicht aus dem Fenster zu sehen.
Der Bus fährt am „Grand Hotel Russischer Hof“ vorbei. Das Café ist fast leer, der Ober in Livrée rückt gelangweilt an den Etagèren. Klassische Musik. Gerade noch Liszt, nun Chopin.
Ganz hinten sitzen der schwule Pensionär und sein aktueller Begleiter. Der Pensionär ist bekannt als eleganter höflicher Mann mit Geld. Der Begleiter kommt nicht aus Weimar, hat schwarzes gegeltes Haar und verliert gerade die letzte Jugend. Er trinkt zuviel, ist verfressen, kommt nicht genug an die frische Luft. Bald ist er aufgeschwemmt und nicht mehr interessant für wohlhabende schwule Pensionisten.
Er gabelt das letzte Stück Torte auf und nickt uninteressiert, als der ältere Mann sagt: „Eine Schande ist das. Ganz schlimm. Das ist…“
Der Jüngere schluckt und murmelt etwas.
„Was hast Du gesagt, mein Lieber?“
„A nightmare. It’s simply a nightmare.“
Also, Amerikaner ist er. Vielleicht zu Besuch, wer weiß.
„Ja, Du hast Recht. Es ist ein Albtraum. Ihr hättet das verhindern müssen.“
Chopin ist zu Ende. Die „Kleine Nachtmusik“ setzt ein. Der Ober greift zur „Bild“. Das passt nicht zu seinem – aber wen kümmert es? Kuckt ja keiner.
„Trump ist Präsident – den schaffen wir auch noch“.
Gibt es unendliche Albträume?
Morgen: Goethe geistert
