MANN MIT MUT

Am Samstag, dem 22. März, stirbt um halb acht Uhr morgens im zweiten Stock eines Altersheims im Münchner Süden der hundertjährige Rolf Schimpf.

Er hat sich arg geplagt in der letzten Woche seines Lebens. Am Montag hat er aufgehört zu essen. Am Dienstag bekam er Joghurt, da hat er noch einen halben Becher geschafft.

Beim Besuch am Mittwoch erkannte er seine langjährige Freundin Barbara Volkmer und drückte ihre Hand, so doll er konnte. Er winkte ihr aus dem Bett mit einer Hand zu – da wirkte er wie einer, der ziemlich weit weg ist. Dann ruhte er sich eine halbe Minute aus und sagte anschließend angestrengt, aber wohlartikuliert das Wort “Hilfe“.

Am Donnerstag konnte er das rechte Auge nicht öffnen. Mit dem linken erkannte er Barbara und drückte ihre Hand, so doll er konnte. Dann keuchte er ein Wort. Es klang wie „Nami“. Oder wie „Nein“. Danach dämmerte Rolf Schimpf hinüber in eine andere Welt.

Das Hörgerät war weg, eine Infusion gab es nicht mehr. Das Telefon auf dem Nachttisch hatte jemand ausgestöpselt und auf einem Abstelltisch zwischengelagert.

Am Freitag atmete er flach und friedlich. Manchmal kämpfte er kurz um mehr Luft. Vormittags hatte der Arzt nach dem Sterbenden gesehen.

Am Samstag hatte das Kämpfen ein Ende.

Sein Sohn Daniel nahm in Island das Handy und tippte:

„Guten Morgen. Habe gerade einen Anruf bekommen. Papa ist heute Morgen eingeschlafen. Jetzt ist er bei seiner Ille.“

Ein mutiges Leben hat Rolf Schimpf geführt. 2019 zog er fröhlich im Biergarten der „Harlachinger Einkehr“ die Zwischenbilanz eines 95-Jährigen: „Ich kann zufrieden sein. Hab‘ niemanden belogen, alle Rechnungen bezahlt. Und ich habe meine Lektionen gelernt.“

Lektionen? Rolf, was meinst Du mit „Lektionen“?

„Ich habe immer meinen Text gekannt. Als Schauspieler und als Mensch. Was versprochen ist, muss gehalten werden. Wenn Du das hin kriegst, haste ein feines Leben.“

Was heißt „feines Leben“?

„Ich habe mich den Dingen gestellt.“

Erzähl‘, Rolf!

„Schöne Kindheit in einer Berliner Villa. Dann die braunen Verbrecher. Den Papa haben die Nazis 1935 umgebracht – er hat für sie einen Nachrichtendienst aufgebaut, aber als er nicht spurte, haben sie ihn im Grunewald ermordet. Im Krieg haben mir die Russen ein Ohr mit einer Granate kaputt gemacht, und ein doofer Franzose hat mir aus Versehen ein Bein in Fetzen geschossen, als ich in der Gefangenschaft war.“

Dann wolltest Du unbedingt Schauspieler werden, aber…

„Jaja, schon gut. Ich war in der zweiten Reihe. Habe kein Glück mit meiner ersten Frau gehabt. Der war ich vielleicht zu langweilig…“

Und? Warst Du zu langweilig?

„Auch so eine Lektion, mein Lieber. Ich liebe die Frauen. Aber man muss vor ihnen auch auf der Hut sein.“

Er machte eine Pause und zwinkerte mit einem Auge.

„Es gibt die Angeber und die Maulhelden. So einer war ich nicht. Ich höre lieber zu und bin aufmerksam. Wenn ich bei einer Frau bin, sorge ich dafür, dass alle Messer scharf sind.“

Dass man sich richtig versteht: Er, der passionierte Jäger, verstand sich aufs perfekte Schärfen von Klingen. Er tat das mit unendlicher asiatischer Geduld. Wenn der Rolf ein Messer bearbeitet hatte, konnte man Papier damit schneiden.

Mit 60 wurde er zum Star. Er bekam die Hauptrolle in der ZDF-Reihe „Der Alte“. 1986 eroberte er den Schirm, 2007 trat er ab. 222 Folgen.

Hauptkommissar Leo Kress: Unaufgeregt. Still. Kritisch. Souverän. Mitfühlend. Klug.

Immer da.

„Das war meine beste Zeit. Ich lebte mit meiner Ille wie im Paradies. Wir hatten die kargen Zeiten durchgestanden. Jetzt war jeden Tag Party. Sie war die, die das Feiern verstand. Wenn es mir zu laut wurde, bin ich den Keller und habe gewerkelt. Oder ich war auf der Jagd.“

Mit über 80 hat Schimpf beschlossen, dass er genügend Texte gelernt hatte. Er wollte es sich im Seniorenstift „Augustinum“ schön machen – dann wurde Ille krank.

„Sie hat die Welt vergessen. Es war eine schlimme Zeit.“

Ille starb 2015. Rolf Schimpf hat getrauert, dann machte er weiter.

Er war ein aufrechter eleganter Kämpfer-Kavalier.

Genau vor fünf Jahren, am 22. März 2020, verlautbarte aus dem Robert Koch-Institut:

„Besuche, unter anderem in Krankenhäusern und Pflegeheimen, sollen beschränkt werden.“

Rolf Schimpf war – wie die anderen Bewohnerinnen und Bewohner des „Augustinums“ – isoliert. Keine Besuche, keine Ausflüge, keine Ansprache.

Er alterte sehr in dieser Zeit. Nach dem schlimmen Lockdown saß er auf der Terrasse des Gasthof „Hinterbrühl“ und schnaubte verächtlich: „Scheiß-Corona. Aber impfen lass‘ ich mich nicht. Wer kennt denn da die Langzeitfolgen?“

Vor eineinhalb Jahren noch so ein Tiefschlag. Rolf musste aus dem „Augustinum“ und in ein billigeres Pflegeheim im Münchner Süden.

Sehr zornig und tief getroffen war er. Was sollte er denn noch wegstecken?

Und noch einmal hat er sich berappelt.

Er lebte für seinen hundertsten Geburtstag. Feierte den 14. November 2024 mit großem Stolz. Die Biographie, die Barbara Volkmer für ihn geschrieben hatte, sah er hochzufrieden durch und signierte Buch um Buch.

Es begann der letzte Abschnitt im langen Leben des Rolf Schimpf:

Hundert plus.

Er gab nicht auf. Ein paar Notizen von Besuchen nach seinem hundertsten Geburtstag:

 

Rolf Schimpf hat einen schlechten Tag.

Rolf will etwas trinken – aber der Deckel der Wasserflasche lässt sich nicht aufdrehen. Er löst das Problem mit den Backenzähnen – die haben mehr Kraft als die Finger.

„Scheiß-Verschluss!“ brummt der Schauspieler.

Dann:

„Barbara, ich kann nicht mehr.“

„Ach, Rolf!“ Sie will ihn auf andere Gedanken bringen. „Iss‘ eine Weintraube. Wo doch heute Neujahr ist.“

„Ach, ist das so? Neujahr? Schon wieder?“

Lange Pause.

„Neujahr? Auch egal.“

Pause.

„Dann eben Weintrauben. Sauer macht lustig.“

Leberkäs und Lebenslust

In Pullach ist Mittagsläuten.

Rolf Schimpf schiebt das Tablett mit dem Sauerbraten weg und greift nach der Tüte mit der Leberkässemmel.

„Schön, dass Ihr mich nicht aufgebt. Endlich wieder mal was Ordentliches zum Essen. Hier schmeckt alles gleich.“

Sauerbraten, Eierkuchen, Schinkennudeln – alles eine Soße.

Leberkäs‘ von draußen. Das ist großartig. Mit jedem Bissen steigen Lebensmut und Lebenslust.

„Die ganze Welt glaubt, dass ich weg bin. Die Kameraden, die Freunde – alle denken, ich sei tot.

Aber Moment mal: ICH BIN NICHT TOT.

Ich lebe. Sie muss das wissen, die Öffentlichkeit. Wenn ich hier alt werde und keiner beachtet das – dann bin ich verloren.“

Fröhlicher Mittag

Rolf Schimpf signiert. Es ist Januar 2025, ihm geht es gut. Er schreibt seinen Namen und korrigiert dann die Unterzeile des Buchs. Aus „Rolf Schimpf wird 100“ wird „Rolf Schimpf wird 104“.

Der Schauspieler grinst. „104! Mindestens. Wie alt bist Du?“

68.

„68! Is ja nix. Da hast Du noch viele Optionen.“

Ein junger Pfleger sieht nach dem Rechten.

„Der“, sagt Rolf und sticht mit dem Finger in Richtung des jungen Mannes, „der ist mir hier der Liebste.“

Der Pfleger lacht.

„Ach, der Rolf! „Er ist ein reizender Mann. Dankbar. Nett. Aufmerksam. Von dem kann man was lernen.“

Rolf kehrt zum Thema zurück:

„Kannste Auto fahren?“

Schon.

„Da haste noch ein tolles Leben. Kannst noch lange fahren und leben und arbeiten. Film und so.“

Hm.

„Mit hundert haste nicht mehr viele Optionen. Da weiß man nicht mehr, in welchen Stall man gehört. Wer hält einen da noch aus – mit hundert?

Schau mich an: Freunde hab‘ ich hier nicht. Meine Freunde sind draußen. Und draußen ist tot.“

Er grinste.

„Aber, mal ehrlich:

Sagen wir’s so: Ich habe immer dafür gesorgt, dass die Messer scharf waren.“