WEGLAUFEN

Startschuss: 17. August 2019, 6.00 Uhr. Zielschluss: 18. August 2019, 12.00 Uhr. Dazwischen: 160 Kilometer zu Fuß rund um Berlin. Das Event heißt “Mauerweglauf”. In “Vettensjournal” das Protokoll der Vorbereitung. Es beginnt am 9. März 2019 und endet am 17. August: 22 WOCHEN.

Auszeit.

Das stellt sich Hans Krohn so einfach vor:

Auszeit:

Eine Weile so tun, als sei alles anders.

Als sei Sabrina nicht an der Brust operiert worden. Als gebe es das Wort „Krebs“ nicht. Als hätten die Ärzte nicht gesagt, man habe ja alles fein weg geschnitten, nun werde man die Angelegenheit in zwei Wochen besprechen, dann folge die Bestrahlung, dann werde man weiter sehen.

Als sei Sabrina nicht die Verängstigte, die ihre Panik vor ihm zu verbergen sucht.

So tun, als würde sie nur eine kurze Pause einlegen. Sie würde am nächsten Tag die Staffelei aufbauen, eine Leinwand drauf stellen und weiter arbeiten.  

Als sei nichts.

Auszeit.

Eine Weile so tun, als gebe es das Kranksein nicht. Pissen ohne Katheter, einfach den Schniedel machen lassen.

So tun, als ob man Mann sei, harmloser Schwanzträger, aber dann doch.

Laufen, bis der Schweiß in den Kniekehlen steht. Rennen, bis es in den Ohren saust. Vor Übermut über Gräben springen. Nicht an das Ding zwischen den Beinen denken müssen und Rücksicht nehmen.

Auszeit.

„Ich gehe morgen auf den Berg.“

„Was machst Du?“

Sabrina: entgeistert, empört, entsetzt.

„Was, bitteschön, machst Du?“

„Ich gehe auf den Berg. Nichts Hohes, nur mal ein paar Stunden raus. Kann ja sowieso noch nicht viel unternehmen, oben liegt noch Schnee – kann nur auf einen kleinen Berg. Ich passe auf. Geh‘ ganz früh los, dann bin ich mittags wieder da.“

„Spinnst Du völlig? Du bist krank. In einer Woche ist Biopsie.“

Krohn weiß es, er denkt dauernd dran. Er will nicht, dass die Angst ihn lähmt.

Sabrina legt das Buch zur Seite. Sie sieht Krohn an und macht sich Sorgen. Ihm ist es Ernst – schmale Lippen hat er, sie mag das nicht, wenn sein Gesicht so etwas Verstocktes bekommt. Dann erreicht sie ihn nicht mehr. Er wird das Reden einstellen und sich von allem zurück ziehen. Vielleicht…

Sie rückt zu ihm und streichelt über seinen Kopf. Ob man nicht vielleicht statt der Bergtour ins Museum…

Er schiebt die Hand weg. Erklärt, er habe das gut überlegt. Er brauche das jetzt für sich. „Ich verspreche Dir, dass ich vorsichtig bin.“

„Das sagst Du immer. Und was ist, wenn Du hinfällst, und der Katheter reißt raus? Oder wenn es Dir schlecht wird? Oder wenn…“

„Mir wird nicht schlecht. Und was ich mache – das ist Wandern, mehr nicht.“

Sie erklärt, sie wolle das nicht. Sie bitte ihn, nicht auf den Berg zu gehen.

Er presst die Lippen fest aufeinander und sagt nichts.

„Red‘ mit mir.“

Nichts.

Sabrina ist sehr wütend. „Nacht!“ faucht sie und ist weg. Die Tür ihres Zimmers schlägt. Sie ist echt, echt sauer.

Was muss, das muss, denkt Krohn trotzig. Vielleicht hat sie Recht mit ihren Bedenken – aber jetzt mag er auch nicht mehr zurück. Er wird da morgen auf den Berg gehen.

Er packt die Ausrüstung für eine kleine Tour in den Rucksack. Stellt den Wecker auf vier. Schaut aus dem Fenster und stellt befriedigt fest, dass Vollmond ist.

Hans Krohn legt sich aufs Bett, schlafen kann er nicht. Der Fernseher läuft, Krohn döst und denkt, dass er das Wort „blümerant“ ganz gut versteht.

Im „Tatort“ hat die Wiener Kommissarin einen Rückfall und kippt angewidert Wodka in sich rein.

Na prima.

In vier Stunden bimmelt das Handy – dann hat Krohn seine Auszeit.

Auch Scheiße – wenn er es recht bedenkt.