CHUR

scheisszeitenwende 102

 

Bitte setzen!

Klara und Hans rücken sich auf ihren Stühlen zurecht. Yves lehnt sich in seinem Chefsessel zurück, schiebt die Brille zur Nasenwurzel. Er seiht lässig aus, ein routinierter alter Erzähler.

Yves beginnt zu lesen.

 

Andreas Walser

Zwei Querstraßen von der Campagne-Première entfernt an der Kreuzung des Boulevard Raspail und der Rue Boissonade stand – es ist wohl im Frühjahr 1929 gewesen – ein junger Künstler sich die Beine in den Bauch und passte den großen Picasso ab. Beim ersten Mal bekam er kein Wort heraus, als – nach vier Lauer-Stunden – der „Meister“ auf seinem Heimweg von einer Tour durch die Gastronomie an ihm vorbei ging. Am nächsten Morgen traute sich dann der junge Künstler.

Doch von Anfang an:

Andreas Walser, Jahrgang 1908, war 15, als sein Bruder in Arosa an der Schwindsucht starb. Das hat ihn aus der Bahn geworfen. Seine Eltern – liebend und ratlos – konnten dem überbegabten Sohn nicht beistehen. Ihm war selbst dann nicht zu helfen, wenn man mit beiden Beinen im Leben stand wie der Vater, der Pfarrer in Chur.

Chur: die Stadt aus Römerzeiten.

In Chur hatte ein Talent wie Andreas nichts zu suchen. Auch der große Augusto Giacometti, dieser berühmte Maler, redete den Eltern ins Gewissen. Sie sollten den Sohn loslassen. Er würde eine große Zukunft haben. Er müsse nach Paris.

 

Mit 20 bezog er Quartier in Montparnasse. Andreas hatte sein Atelier in der Rue Bardinet. Hätte er einen Spiegel gehabt – er hätte sich ins Gesicht schauen können und gesehen, wie da ein junger Manesch einen langen Tod stirbt. Es war ein junges Gesicht, in dem sich eine trostlose Tristesse eingrub. Walser wurde von den Dämonen heimgesucht und er hatte keine Chance.