AUF DER STRASSE

berlin, 7. april 2015

Am langen Osterwochenende war die Schöneberger Hauptstraße stadteinwärts gesperrt. Die Spur gehörte den fahrenden Händlern und dem Fußvolk aus dem Kiez. Eine menschliche Herde schob sich vom Kaiser-Wilhelm-Platz zur Eisenacher Straße und retour. Unzufrieden sahen die Besucher nicht aus. Sie schienen den Ausflug zu genießen. Dabei war das beileibe nicht der Ku’damm von Schöneberg, über den sie flanierten. Es war eher ein Boulevard zerbrochener Träume.

IMG_3570

Hier gibt es nichts geschenkt, man hat nichts zu verschenken. FOTOS: BARBARA VOLKMER

 

Billie Holyday hätte ihre Freude an dem Treiben gehabt. Vor genau hundert Jahren kam die Lady des Blues zur Welt und kämpfte sich durch ein ruppiges Leben. Sie litt an den Menschen und sie liebte die Menschen. Sie hasste die Erniedrigungen der Unterklasse und sie suchte die Erfahrungen, die sie nur bei den Gebeutelten fand. Billie Holiday setzte sich furchtlos einer Welt aus, die ihr weh tat.

IMG_3610

Herrreinspaziert! Träumen Sie von einer besseren Welt!

 

Das machte sie wegen der Kunst, sie brauchte die intensiven Gefühle in der rauhen Wirklichkeit. Der Schriftsteller Leonard Feather sagte, “ihre Stimme war die Stimme lebendiger Intensität, der Seele (im wahren Sinn dieses missbrauchten Worts). Als Mensch war sie süß, sauer, zart, gemein, großzügig, profan, liebenswert und unmöglich.”

Wirklich, sie hätte das Treiben auf der österlichen Hauptstraße in sich aufgesogen:

Die alte Frau, die sich in der Nähe vom “Rossmann” auf den Bordstein kauerte und ohne große Hoffnung die Schuhe der Passanten anbettelte.

Die Airbrush-Basketballer der Harlem Globetrotters, die sich vor dem Postamt in den Schöneberger Himmel schraubten. Unten auf der Gasse warfen Väter, angefeuert von ihren Kindern, aus lächerlicher Nähe auf echte Körbe und trafen nicht. Dann hielten die Männer ihren Zorn kaum noch im Zaum. Die Kinder spürten die Erniedrigung und sagten lieber nichts.

IMG_3601

Sie wollen große Sprünge machen? All right, dann sind Sie richtig.

 

Junge Frauen mit grell bemalten Lippen trugen ihre sehr kurzen Röcke und die Stilettos unter die Kerle. Die machten Stielaugen, pfiffen den Frauen hinterher und sagten ihnen Liederlichkeiten. Auch im Zeitalter der Smartphones fällt ihnen nicht mehr ein als “Hey Süße, haste noch was vor?”

Ein pickliger junger Mensch küsste eine dralle Blonde. Er war eifrig bei der Sache, sie wollte das Geknutsche zu Ende bringen, weil sie den Kaugummi wieder in den Mund stecken musste.

Eine Frau pries ihre zu verkaufenden Hüte in höchsten Tönen an. Geduldig hörten die Umstehenden zu – dabei wussten sie: Wenn man so einen Hut gekauft hat, ist er keinen Cent mehr wert. Dann ist es nur noch ein unansehnliches Teil für die Altkleidersammlung. Ab und zu kaufte aber dann doch jemand einen Hut. Warum? Mitleid vielleicht?

IMG_3548

Nimm mich, sofort! Wer auf der Hut ist, den bestraft das Leben.

 

Die Wolken kamen, die Wolken gingen an jenem Wochenende. Manchmal war der Frühling zu ahnen.  Menschen kamen, Menschen gingen. Kinder rannten den Liebespaaren vor die Leiber. Väter und Mütter hatten sich nichts zu sagen und mochten den Augenblick doch ganz gern. Dann machten sie Platz für die nächsten Menschen aus dem Kiez.

IMG_3595

Verlockungen allerorten. Man muss sich die Dinge nur schön gucken.

 

Nur die Bettlerin blieb sitzen. Beharrlich und ohne zu den Menschen hoch zu blicken. Abends um sechs raffte sie die Röcke zusammen, fuhr mit der U-Bahn nach Charlottenburg. Wanderte an gut gekleideten Leuten vorbei zur Joachim-Friedrich-Straße. Dort warteten die Kolleginnen und Kollegen schon. Sie trotteten zur nahe gelegenen Pension, lieferten das erbettelte Geld ab, aßen was, hatten ein Abendgespräch auf Rumänisch und ruhten dann bis zur nächsten Schicht aus.

Es hat sich irgendwie nichts geändert in der Welt ganz unten.

Billie Holiday könnte sich ihren Reim drauf machen.

IMG_3587

Das Schöne lauert immer und überall.