ALSTER-ZOMBIES
Startschuss: 17. August 2019, 6.00 Uhr. Zielschluss: 18. August 2019, 12.00 Uhr. Dazwischen: 160 Kilometer zu Fuß rund um Berlin. Das Event heißt “Mauerweglauf”. In “Vettensjournal” das Protokoll der Vorbereitung. Es beginnt am 9. März 2019 und endet am 17. August: 22 WOCHEN.
Krohn notiert, 21. Juni
HAMBURG.
Waser-Gefunkel auf der Alster. Gekräusel, nein Gewelle. Nein, dann wieder glatt.
Mitternacht.
Menschen küssen sich im Dark. Welche trinken. Welche laufen. Welche habe sich verlaufen, verirrt, verwirrt, vervögelt und vertrunken.
Die Alster ist friedlich. Über dem Wasser ein Nordlicht der kleinen Art.
Ich laufe, ich renne, ich gehe. Ich weiß, es wird weh tun.
Laufen. Ist heute kein einfach‘ Ding. Wird aber bis in Morgenhelle dauern.
Mal rennen die Häuser, mal stehen sie vorbei.
Ich, schnell, hustend, hastend, hechelnderweise.
Ich, ein ganzer Kerl.
Trinke einen Kaffee und kann es mit jedem aufnehmen.
Will aber nicht.
Vielleicht sollte ich über den Hamburger Krohn nachdenken.
Das mache ich, während ich laufe. Stichwörter als Sprachmemo ins Handy. Ins Reine schreiben kann ich den Schmarrn auch später.
Jetzt hopphopp durch die Nacht-Stadt
Da hetze ich durch Hamburg, und nach Mitternacht sind sie da, sie kreuzen den Weg, die Menschen von damals.
Lange nicht gesehen, lang nix gehört.
Ihnen geht’s wie mir.
Das Jungsein ist aufgebraucht, lang ist unsere Frist nicht mehr – die Stadt gehört den Kindern und Kindeskindern.
An der Alster glaube ich im dezent beleuchteten Wohnraum einer Villa die Silhouette von Monique auszumachen.
Sie hat damals hier gelebt, stand gerne am Fenster und blickte aufs Wasser. Sie war ohnehin ein verträumtes ätherisches Wesen. Schwieg viel, blieb beim Liebe-Machen still und scheinbar zurückhaltend. Aber wenn das Wilde erledigt war, wurde sie schmiegsam und zutraulich.
Unser Ding war nicht von Wert, sie hing dann doch sehr an ihrer Ehe und der Villa.
Ob sie blond geblieben ist oder ergraut?
Oder tot – wie Christoph, der alte „Ritzen“-Kumpel.
Auf der Moorweide grätscht der Zombie-Christoph in die Beine von lebendtoten Männern.
Der echte Christoph war ein böser Mann, der das Intrigante beherrschte. Ich hatte vor ihm keine Angst, wir waren Freunde, dachte ich, mit mir spielt er nicht.
Klar waren wir Kumpels. Haben uns beim Mittwochs-Kick auf der Moorweide und in einer Turnhalle kennen gelernt. Da trafen sich erfolgreiche Kerle und fuhren sich in die Parade, man hat nach dem Duschen Bier aus der Flasche getrunken und ist ab und zu in Sankt Pauli gelandet.
In Sankt Pauli haben Christoph und ich in der „Ritze“ geboxt. Ich war überlegen, aber er hat mir weh getan. Er wollte nicht verlieren. Also hat er da hin gehauen, wo es echt übel knockte.
Architekt war er. Wie mein Vater. Und er ist ein Arschloch gewesen, wie mein Alter auch.
Christoph tat alles, um zu gewinnen. Er hat mir mal das Buch eines Tennisspielers empfohlen, das den Titel „Ugly Winning“ hatte. Das war seine Sache:
Die Anderen platt machen. Den Siegerscheck einsacken. Dreckig lachen.
Mit ein paar fiesen Sprüchen hat er mich aus der Society gemobbt, nachdem ich ihm „Ugly Winning“ zurück gegeben und gesagt hatte, dass ich das Buch nicht mochte.
Er hat mich madig gemacht bei den Kumpels auf der Moorweide und bei den blonden Frauchen auf den Partys. Gewehrt habe ich mich nicht, ein Fehler.
Ich war raus.
Nun ja – jetzt laufe ich durch die Stadt, und er liegt schon seit Jahren flach.
Speiseröhrenkrebs.
Selber schuld. Oder so.
So renne ich durch Hamburg. Der Mond nimmt ab, hat noch halbe Kraft. Die Stadt ist lau.
Die Penner haben sich am Dammtor verkrochen.
Ich laufe zur Sternschanze, dort haben es die Kinder und Kindeskinder geil. Flucht durch die stillen Seitenstraßen.
Ich passiere eine Kneipe, aus der Punk kommt und vor der die jungen Leute Schlange stehen.
Zu meiner Zeit hat das Lokal ein Grieche betrieben. Lässig feiern konnten wir dort. Am Ausgang ist mir mal Sebastian aus den Armen gerutscht. Ich war zu betrunken, um den Volltrunkenen aufrecht zu halten.
Er flutscht mir also aus dem Judo-Notgriff, landet in der – wegen des Hamburger Schietwetters – nassen Drecksgosse. Ich plumpse daneben, wir wälzen uns auf den Rücken, glotzen in die Regentropfen und die Laternen und den schwarzen Himmel obendrüber. Und wir lachen, endlos lachen wir. Dann rappeln wir uns aneinander hoch, prusten, haken uns unter und taumeln zu seiner Wohnung, wo uns seine Freundin böse anstiert und ich schon wieder lachen muss, weil sie ein so tuntiges gepunktetes knöchellanges Nachthemd anhat. Er will wissen, was mich so amüsiert, ich erkläre es ihm, das dauert, dann hat er es geschnallt, findet es auch extrem komisch und holt einen Wein aus dem Kühlschrank, den wir am Küchentisch bearbeiten.
Die Freundin ist ihm geblieben.
Sebastian ist mit ihr nach Norderstedt gezogen, da hat man sich dann nicht mehr besucht.
In Norderstedt pennt er wohl auch jetzt, während ich unsere Kneipe passiere und es schade finde, dass wir nicht mehr freund sind.
Er pennt, aber es ist kein gerechter Schlaf, wenn denn „gerecht“ „zufrieden“ bedeutet, denn Sebastian hat sein Talent versemmelt und sich in der Bürgersamkeit eingemümmelt, er fährt SUV, kuckt HD und ist wie tot.
Wir konnten irgendwann nicht mehr reden, und er geht mir so ab.
Ich laufe an dem amtlichen Gebäude vorbei, in dem er „Karriere“ gemacht hat. Nun hat er einen soliden Status – A irgendwas – und darf bald in Pension.
Jetzt pooft er solide in Norderstedt und hält sorgsam Kurs in Richtung no future – ich laufe haltlos durch die Stadt und das sonstige Leben.
Bittesehr!
Einmal habe ich ihn doch besucht. Nach der Peripherie Hamburgs war ich im Norden. Nolde-Grün und Nolde-Wind, der alles versilberte. Dann war ich in der Stadt der Verlorenen.
In seiner geordneten Heimstatt.
Ich fuhr da hin und trank nicht.
Frau (immer noch sauer auf mich). Kinder (brav, doof, überflüssig). Aquarium (Respekt: zweihundert Liter, Salzwasser). Alle Räume durchgesaugt. Nebenan ein Nachbar. Rasenmäher-Roboter. Kaffee und Bienenstich.
Sebastian, immer noch Haare auf dem Kopf, Trauer in den Augen. Und mit Sicherheit nicht durchgesaugt.
Warum ich jetzt, laufend auf dem letzten Schuh, drüber nachdenke:
Weil ich wissen will, was ich falsch gemacht habe.
Sebastian: Abgesichert. Zornlos. Wunschfrei im perfekten Nichts.
Krohn: Zerfressen. Abgegessen. Vergessen.
Aber: Voller Gier.
Die jungen Menschen am Schlump trinken. Holsten, Augustiner, Wodka, Wein-Plörre.
Ich: Kaffee. Sehr erschöpft.
Sie trinken und berauschen sich an der Aussicht auf Hoffnung.
Ich: Kaffee. Müde.
Der Weg nach Sankt Pauli macht keine Freude. In einer Wohnung im ersten Stock feiern sie, aber die Musik! Oiwei, diese Musik ist gar keine!
Dann die Reeperbahn. Menschen, Getue, Bullerei, Glitzerglimmerfalsch. Herbertstraße und Strapse, mich zippt es am Sack, ich muss pissen, ich pisse gegen einen Bauzaun, drei Araber schauen zu und machen Anstalten, die Straße zu queren, dann lassen sie es, es würde keinen Spaß machen, den strullenden Penner zu ins Trottoir zu kloppen, man könnte sich die Klamotten versauen.
So strulle ich weiter.
Ouweia, tut das weh, die Ameisen wuseln durch den Unterleib.
Ouheia, tut das gut, als der Schmerz nachlässt.
Die Zeiten haben sich geändert. Früher waren es schnelle Nummern in dunklen Mauernischen. Heute ist es der Auftritt am Bauzaun, wenn ich auf die Pisste geh‘.
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Ich fliehe die Reeperbahn. Lasse den Lärm hinter mir. Runter zum Hafen.
Schunkel-Boote und glattes Wasser.
Kräne, die Philharmonie
Wollte ich mal die Welt erstürmen?
Lang her.
Wollte ich mal ein Schiff besteigen, das ich in hinaus führte?
Lang her.
Ich gehe durch die letzten Straßen zum Hotel.
Hier kaufen die feinen Hamburger ihr Mont-Blanc-Stifte und ihr Sonntagsgeschirr ein. Hier ist außer den Wachmännern kein Schwein, wenn der Morgen kommt.
Ich mag jetzt zur Ruhe kommen. Habe die Faxen dicke von der Nachtstadt. Bin mürbe.
Ziemlich, sehr, sehr, sehr allein
Es ist scheiße, durch Hamburg zu laufen und keine Spuren zu haben.
Was für eine Scheiße! Jetzt sterbe ich bald, niemanden kümmert es. Was eine Mörderscheiße.
Ich könnte sagen, ich hätte dicke gelebt.
Ja und? Wenn ich das hier alles sehe, dann ist doch schon gestorben, irgendwie.
Ja, habe dicke gelebt. Und habe viel falsch gemacht.
Dicke gelebt: Nichtsnutzen. Frauen verputzen. Kerle stutzen.
Ja, dicke gelebt.
So viel Wahres wars nicht.
Jetzt kann ich es auch nicht mehr ändern.
Oder?
Ich stehe lange unter der Dusche. Der Körper ist müde, die Füße sind platt, die Nacht hat wund gemacht.
Abtrocknen. Tasche nehmen. Zum Bahnhof latschen. Morgenzug. Kaffee und Croissant im Speisewagen. Noch fünf Stunden bis Sabrina.
Es wird Zeit.