TRAU DICH!

„5.45“   —   Krohn wird umziehen. Weg aus der lauten Stadt. Weg in die Welt. Er sieht sich noch einmal um. Lokaltermine, morgens um dreiviertel sechs in Berlin und im Brandenburgischen. Teil 7, Alt-Moabit, beim McFit.

Früher – also, im letzten Jahrhundert bis zu den 68ern – hätte man „Fräulein Schmittke“ zu ihr gesagt. Sie ist ein typisches „Fräulein“.

Heute ist sie für die Kollegen „die Schmitti“. Das klingt nach Neutrum, das hat was Sächliches.

Beim Vornamen wird sie nur von ihrer Mama gerufen.

Dabei wäre sie gerne für jedermann die Melanie.

Achja. Herrje.

 

Melanie Schmittke hat kleine Schweißperlen auf der Stirn. Seit 25 Minuten sitzt sie auf dem Rad, ihre Leistung ist beachtlich. 250 Watt, 90 Umdrehungen pro Minute, 150 Herzschläge pro Minute. Viel mehr schafft sie nicht.

Die Augen sind geschlossen, der kleine Körper schwankt leicht. Harte Muskeln, knappe Luft. Melanie will es so – der Sport muss weh tun, dann spürt sie sich.

Sie wischt mit dem Handtuch die Stirn trocken, während sie tritttritttritt. Noch eine halbe Minute, dann hat sie die Schinderei hinter sich.

Arghh!

Runter schalten, leichter treten, das Herz beruhigen, die Augen öffnen. Melanies Gesicht wird ruhig. Wieder mal geschafft.

Am anderen Ende des Raums trainiert der junge Mann, wie jeden anderen Morgen auch, er ist ein Stoiker und nur für sich selbst da.

Der Dicke aus der Nachbarschaft rumpelt durchs Drehkreuz am Eingang – was der hier will, wird nicht ganz klar, sein Körper ist eine fette Ruine.

Die türkische Frau im McFit-Shirt saugt missmutig Staub, sie hat für die Frühsportler keinen Blick. Vor dem Fitness-Scheiß hat sie ein Büro gesäubert, jetzt wird sie müde, wie immer.

Jetzt federt auch noch die Hübsche mit den Kräusellocken herein – wetten, dass die wieder mal viel zu knapp angezogen ist und dass der Dicke immer in ihrer Nähe trainieren wird.

Eminem singt zornig. Melanie mag Eminem, das würde man ihr gar nicht zutrauen. Eher dächte man, sie steht auf Hansi Hinterseer. Auf dem Bildschirm turnt eine sehnige Blondine an einem Südseestrand, Melanie denkt an Urlaub und Frühstücksbüffet, an eng sitzende Männer-Badehosen und zwei Weingläser in der Abendsonne.

Im Grunde genommen ist sie nicht hässlich. Alles dran an Melanie. Sie ist nicht dünn und nicht dick, der Busen nicht klein und fest, strammer Hintern, kräftige Beine mit schönen Knien, Frauen-Füße. Melanie hat braune Augen und braunes Haar (schulterlang, seidig-glatt-glänzend). Stupsnase, aber nicht keck. Volle geschwungene Lippen – aber mehr auch nicht.

Eine ansehnliche junge Frau, die sich nicht schminkt und nichts aus sich macht. Beim Sport trägt sie eine weite graue knielange Hose und ein grauenvoll rosafarbenes XL-Shirt. Das Haar ist zum Pferdeschwanz gebunden.

Und:

Melanie ist das Lächeln abhanden gekommen.

 

Nun, beim langsamen Radeln, hat sie Zeit zum Schauen und zum Denken. Sie mag diese Momente am Morgen. Der Sport ist gemacht, sie fühlt sich bestätigt. Es ist kurz vor sechs. Draußen in Moabit wird das Leben rege. Die Menschen haben es eilig, in den Tag zu kommen. Manchmal drücken sich auch Frauen und Männer an der Scheibe entlang, die gerade aus der Nacht kommen.

Da ist dieser gut gebaute Farbige im Anzug. Von ihm weiß sie, dass er die Tür eines teuren Etablissements hütet, in dem nur eine ausgesuchte Klientel verkehrt.

Warum gerade sie, „die Schmitti“, so etwas weiß?

Das war nach einer Betriebsfeier im vorigen Jahr. Da hatte ihr Chef sehr getrunken und um drei Uhr morgens beschlossen, der Rest der Party würde nun umziehen. „Sie auch, Schmitti“, hatte er gerufen und ihr in den Mantel geholfen. „Ich lasse den Fahrer kommen.“ Sie waren nach Mitte chauffiert worden, der Chef hatte an einer schweren Tür geklingelt, ein großer farbiger Mann hatte durch eine Klappe gesehen und geöffnet.

Er war sehr zuvorkommend zu ihr gewesen. Als sie eine halbe Stunde später das Etablissement verließ, lächelte er sie an und meinte: „Kann ich Ihnen ein Taxi besorgen? Sie sollten nicht so allein durch die Nacht gehen.“

Sie hatte sich gut gefühlt, als er so mit ihr sprach. Hatte sogar das Taxi akzeptiert, obwohl sie sonst ihr Geld nicht auf diese Art verschleuderte.

„Haben Sie noch einen schönen Tag“, hatte der Türsteher gemeint und ihr den Schlag aufgehalten. Es hätte sie nicht gewundert, wenn er noch gesagt hätte „Das hier ist nichts für Sie“.

Ein paar Tage später hatte sie ihn – es war kurz vor sechs Uhr morgens – gesehen, als sie auf dem Rad saß. Er hatte ein müdes nachdenkliches Gesicht. Ein breitschultriger einsamer Mann, der seine Arbeit hinter sich hatte, wenn der Tag sich lichtete – Melanie hatte eine große Zärtlichkeit für den Fremden.

 

Seither passte sie ihn ab. Sie dachte viel an den Mann. Die Arbeit ging Melanie leicht von der Hand. Sie bemerkte, wie erstaunt die Kolleginnen waren. Die Schmittke lachte! Sie saß nicht mehr allein in der Kantine sondern ging raus in die Stadt. Saß im nahen Park auf einer Bank, trank Kaffee aus dem Becher, aß einen Donut und las ein Buch. Manchmal legte sie die Lektüre beiseite und sah den Spaziergängern heiter hinterdrein.

„Na, Schmittke“, fragte eine, die schließlich nicht mehr an sich halten  konnte. „Endlich bei Parship angemeldet? Gut so – dann klappt es auch mit dem Nachbarn.“

Hämisches Lachen. Melanie Schmittke störte es nicht. „Ach, ich glaube, dieses Parship ist nichts für mich. Das lasse ich lieber bleiben.“

„Ich dachte nur…“

„Was?“

„Na, weil Du Dich anziehst, als hättest Du ein Date. Ein neues Parfüm hast Du auch. Und überhaupt…“

„Ja?“

„Du bist so gut aufgelegt. Irgendwas ist los.“

 

Sie hat ihn durch die Scheibe gesehen, immer. Sie hat getr#umt.

Sich entschlossen.

Heute ist der Tag.

20 vor sechs. Melanie duscht nach vorzeitig abgebrochenem Sport. Zieht sich die Spitzenwäsche an und mag es. Wirft das Sommerkleidchen über, die Schultern sind blank, das Dekolleté macht was her. Sie schlüpft in die römischen Sandaletten. Schminkt sich, dezent und mit Behagen.

Prüft sich im Spiegel.

Okay.

Melanie Schmittke greift die Sporttasche und verlässt den McFit. Der Dicke kommt ihr im Drehkreuz entgegen. Er grüßt, zieht die Augenbrauen hoch, grüßt noch einmal.

Melanie sieht auf die Uhr.

Kurz vor sechs. Sie blickt den Bürgersteig entlang.

Da kommt er. Blauer Anzug. Müde Schritte. Sie geht ihm entgegen. Er schaut hoch, nimmt sie wahr.

Er geht langsamer, denkt nach, erinnert sich, lächelt.

Sie strahlt, bleibt stehen.

Er kommt auf sie zu. „Wir kennen uns?“

„Ja“, sagt sie.

„Wie geht es Ihnen“, fragt er.

Gut, antwortet sie. Jetzt gehe es ihr gut. Er lädt sie zum Frühstück ein. Irgendwo, vielleicht Ku’damm?

Klingt schön, sagt sie.

„Taxi?“, fragt er.

Ja, sagt sie.