SCHEIDEWEG

“5.45”   —   Krohn wird umziehen. Weg aus der lauten Stadt. Weg in die Welt. An den letzten 55 Tagen sieht er sich noch einmal um. Lokaltermine, jeden Morgen um dreiviertel sechs in Berlin und im Brandenburgischen. Tag 1, es ist der erste Juni, die Meteorologen sagen, es sei Sommeranfang. 5.45 Uhr – 20 Grad. Es wird ein heißer Tag.

 

Am Checkpoint Charlie teilt sich Berlin.

 

Stadteinwärts macht sich die Friedrichstraße fein. Aus den Bäckereien duftet das erste Brot. Jenseits der Leipziger beginnen die Banken und die Chocolatiers. Die Russen haben sich mit ihrem Kulturhaus festgesetzt. Der Lindner macht mit seinen überteuerten Delikatessen auf Alt-Berlin. Die Galeries Lafayette lassen an der Fassade Bäume im rechten Winkel aus der Wand wachsen.

Der Dussmann. Der Friedrichstadtpalast. Die „Distel“. Früher das Café Bauer und der Franziskaner. Alexander von Humboldt. Napoleon mit seiner „vergnügten Nacht“ bei Madame Bernhard. Engels mit seinen Thesen. Fontane, ewiger Wandersmann. Ganghofer, Bayer auf Passage. Christa Wolf.

Tagsüber sind die Menschen immer noch die Karikaturen, wie sie George Grosz gestrichelt hat. Kerle, die den Frauenspersonen hinterher glotzen. Weibsbilder, die die Hintern schwenken. Schießfiguren der Menschheit. Im Rinnstein der eine oder andere Bettelsmann. Nahe Unter den Linden die russische Babuschka, die sich kaum noch das Brot am Abend leisten kann und ihre letzten zerlesenen Groschenhefte verscherbelt.

 

Stadtauswärts verelendet die Straße. An den 24-Stunden-Budiken dünstet das schale Bier der Nacht aus. Die Stadtwerker fegen den Unrat zu Haufen. Ein Rentner führt den Hund aus, bevor es heiß wird – ob sie den Tag überstehen, weiß keiner. In den Schaufenstern der Schnäppchen-Märkte türmt sich weiterer Unrat. Am Halleschen Tor sitzt einer und weiß nicht, wo er zuhause ist. Neben ihm trinken sie auf den Tag. Auf dem Spielplatz gibt’s Ratten und Spritzenbestecke.

Ein Piratensender ohne Sendung. Ein Rechtsanwalt ohne Mandate. Der Psychotherapeut hat eine Schacke. In den Wohnungen haust Hartz IV.

 

Krohn erinnert sich an den Tag, als er vor vier Jahren auch hier am Scheideweg stand. Er fragte den Geldautomaten, was von ihm geblieben war.

„17 Euro“ sagte der Automat.

Damals trat  Krohn auf die Straße und schnaufte schwer durch.

Es war Mai, die Menschen fluteten.

Nach rechts, in Richtung Leben.

Nach links ging es bergab.

Krohn wandte sich stadtauswärts. Ihn wunderte, dass er so heiter war.