HELDEN

SPREEMANNSGARN 4     —–      Hans Krohn hat viel geträumt in diesen Tagen. Männerträume. Vor dem Fernsehapparat hat er gesessen und die Welt vermöbelt. So wie damals in Mittenwald, als er sogar mal den Reindl von Riessersee aus den Schuhen gehauen hat. Der Reindl ist jetzt in Korea und Präsident der Eishockeyspieler. Und die Jungs hauen nicht mehr zu. Sie gewinnen die Schlachten auf ihre Weise.

 

 

HELDEN I

Der Duden erklärt den Begriff so: „Jemand, der sich mit Unerschrockenheit und Mut einer schweren Aufgabe stellt, eine ungewöhnliche Tat vollbringt, die ihm Bewunderung einbringt.“ Demnach sind die deutschen Eishockeyspieler bei Olympia „Helden“. Zumindest für eine Nacht

 

Sie: „Warum?“

Er: „Weil ich ein Kämpfer bin.“

Sie: „Du kannst nicht gewinnen.“

Er: „Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist.“

 

In einer halben Stunde ist Mitternacht. Geisterstunde für die besten Eishockeyspieler der Welt. Die Schweden – Sieg-Kolosse, in der Mehrzahl bärtige Monster-Wikinger – verlassen geschlagen die Arena. Ihr Torwächter zertrümmert seinen Schläger. Er drischt damit auf ein Absperr-Gitter ein, dann nimmt er sich eine Aluminiumkiste vor. Der Schläger bricht zuerst an der Kelle, später mehrfach am Schaft. Der Wikinger lässt erst von seinem Tun ab, als er nur noch ein Stück Kurz-Holz in der Faust hält.

Die Widersacher der gelben Gladiatoren sind noch in der Arena. Ein hin und her wogendes Knäuel von verschwitzten Mannsbildern. Ein brüllender, jaulender, jubelnder Schwarm. Mittendrin der deutsche Torwächter. Verschwitzt. Taumelnd. Gehalten von den Triumph-torkelnden Helden-Freunden.

Das sind also die Männer, die die Sensation geschafft haben.

Deutschland, der „Zwerg“, schlägt Schweden, den Weltmeister-Giganten, mit 4:3 Toren und ist nun im Halbfinale des Turniers.

Daran hätte vor dem Spiel keiner geglaubt.

„Wir schon“, sagt der Torwächter der Deutschen später. „Wir schon.“ Und der Kapitän Goc ergänzt: „Das war unser Motto vor dem Turnier. Egal, was die Anderen sagen – wir glauben an uns.

 

„Wenn Du nicht anfängst, an dich zu glauben, hast Du schon verloren.“ (Das sagt „Rocky“. Der ist ein Boxer im Film – und für ganz viele Athleten in der Wirklichkeit ein Vorbild. Weil bei ihm die Wahrheiten des Sports ausgesprochen werden.)

 

Am Rand der wilden Feier nach dem wundervollen Sieg stützt sich Marco Sturm auf die Bande. Er hat den dunklen Schlips noch nicht gelöst und das Gesicht noch nicht abgelegt, mit dem er sich in den vergangenen zwei Stunden geschützt hat. Da stand der Trainer der deutschen Mannschaft hinter seinen dampfenden Spielern, hatte einen kleinen Block in der Hand, auf den er kaum etwas notierte. Sturm lächelte nicht, er erregte sich nicht, kein Zorn und keine Freude waren in seinem Gesicht. Sturm stand da und ließ seine Spieler spüren:

Alles gut. Alles im Griff.

Dabei war auf dem Eis die Hölle los. In den ersten zehn Minuten fielen die Schweden wie eine wüte tollwütiger Raubtiere über die Deutschen her. Es war eine Frage der Zeit, wann die Katastrophe ihren Beginn nehmen würden.

Die Deutschen hielten es aus. Sie befreiten sich ein wenig. Ein Schwede handelte sich zweimal in Folge Strafzeiten ein. Eine führte zum 1:0 der Deutschen. Und weil sie gerade mal dabei waren, setzten sie 29 Sekunden noch eins drauf und stocherten den Schweden den Puck zum 2:0 ins Tor.

Das zweite Drittel rannten die Schweden gegen das deutsche Tor an. Getroffen haben sie nicht.

So brauchten sie die letzten 20 Minuten, um die Dinge zurecht zu biegen. Sie schossen den Anschlusstreffer. Und als jeder glaubte, nun werde die deutsche Mannschaft zusammen brechen, befreiten sich die – Dominik querte von rechts nach links, spielte einen Gelben aus, blickte hoch, zielte, schlenzte flach und glashart. 3:1.

Abermals tollwütig die Schweden.

 

Der Sohn: „Und? Macht Dich der Kampf nervös?“

Rocky: „Ich hab‘ eine Todesangst.“

Der Sohn: „Es zwingt Dich niemand dazu.“

Rocky: „Naja, ich will es einfach.“

 

Nein, das würden die Schweden nicht zulassen. In Wellen rollten die Angriffe.  Die Deutschen konnten nicht mehr.

Zweimal hintereinander verlor der Kölner Ehrhoff den Schläger. Die Finger hielten das Ding einfach nicht mehr. Ehrhoff kurvte mit leeren Händen durchs Drittel seiner Mannschaft, an ein Aufgabeln des Schlägers war in dem Trubel nicht zu denken. Der Spieler stellte sich bewaffneten Schweden in den Weg, er sprintete auf einen Gegner zu, der zum Schlagschuss ausholte. Der Schwede zog ab, der Puck flog mit 120 Sachen aufs deutsche Tor zu.

Ehrhoff warf sich in den Schuss. Der Puck raste in die Rüstung des Kölners.

Gefahr gebannt.

Trotzdem: Die Schweden schossen noch zwei Tore. Das war’s dann wohl. Noch fünf Minuten hielten sich die Deutschen, stehend ausgeknockt, im Spiel.

Verlängerung.

Wer das erste Tor machen würde, wäre im Halbfinale.

Naja, war ja klar, wer das sein würde.

Schade.

 

„Der Punkt ist: Wieviel kannst Du einstecken und trotzdem weiter machen?“

 

Sie waren mit den Kräften am Ende.

Sie waren angezählt, weil der Vorsprung nicht gereicht hatte.

Sie hatten schon viele Zähne in diesem Turnier verloren.

Marco Sturm, ihr Trainer, hat gesagt: „Wir haben ein Problem. Sind immer wieder bis in ein Viertelfinale gekommen. Dann haben wir nicht an uns geglaubt. Und am nächsten Morgen waren wir raus und wussten, dass das nicht nötig gewesen war.“

Sie mussten in die Verlängerung. Pro Mannschaft ein Spieler weniger auf dem Eis. Viel Platz.

Plötzlich war das Match ausgeglichen. Chancen hier, Chancen da.

Eine Minute lang. Eine Minute 20 Sekunden.

Nach 90 Sekunden kullert der Puck vor dem schwedischen Torwächter übers Eis. Patrick Reimer stochert, stochert, stochert. Der Puck rutscht ins Tor.

Videobeweis. Der Referee sagt: „Good goal. Good goal for Germany!“

Ein deutscher Radioreporter auf der Tribüne brüllt ins Mikro: „Ich halte das nicht aus. Das ist noch nie da gewesen. Ich bin am Boden, ich habe Tränen in den Augen.“

Aus.

Oder korrekter ausgedrückt:

Aus für Schweden. Deutschland macht weiter.

 

„Du musst nicht mit dem Finger auf Andere zeigen und schreien, die sind schuld, dass Du nicht da bist, wo Du hin wolltest. Du musst nicht auf die Anderen zeigen. Schwächlinge tun das. Du bist kein Schwächling, Du bist der Beste.“

 

 

 

HELDEN II

Halbfinale des Eishockey-Turniers. Kanada – Deutschland. David – Goliath. 1:0 Brooks Macek (15. Minute). 2:0 Matthias Plachta (24.). 3:0 Frank Mauer (27.). 3:1 Gilbert Brule (29.). 4:1 Matthias Plachta (33.). 4:2 Nathan Robinson (43.). 4:3 Olivier Roy (50.). Deutschland im Finale. Wahnsinn! Schuld ist: Marco Sturm

 

„Kanada ist besser bestückt als wir, aber wir haben das größere Herz. Ich bin schon jetzt stolz auf meine Jungs“, sagt Marco Sturm am Tag vor dem Match. „Wir müssen eine Mannschaft sein. Es muss jeder für den anderen da sein, für den anderen fighten. Wir haben keine Superstars in der Mannschaft, es gibt keinen, der ein Spiel alleine entscheiden kann. Deswegen geht es nur über Teamwork.“

Sturm ist wie immer picobello gekleidet – dunkler Blazer, Hose mit Bügelfalten, weißes Hemd, blauer Schlips. Der Bart ist modisch dreitägig, der Haarschnitt frisch und flott. Sturm sieht für seine 39 jung aus. Ernst ist er, er muss sich konzentrieren, fürs Lächeln hat er kaum Zeit.

Es ist viel zu tun vor dem Halbfinale. Die Vorbereitung hat gleich nach dem Spiel gegen Schweden in der Kabine begonnen, da sind die Video-Experten zusammengesessen, während die Spieler noch gejubelt haben.

So etwas prägt sich den Athleten ein: Unsere Vordenker schlagen sich die Nacht um die Ohren, um uns mit den Infos zu füttern. Denen schulden wir was

Im Quartier geht’s weiter mit den Videostudien. Analysiert werden die Kanadier. Kleine Filmchen entstehen, die am nächsten Tag den Spielern vorgelegt werden. Die auf fünf Minuten komprimierten Szenen werden dann mit dem Bundestrainer besprochen. Wie spielen die Kanadier Überzahl? Wie in Unterzahl? Wie reagiert der Torwart?

Der Coach lässt seine „Jungs“ nicht aus den Klauen. Er ist heiß, sie sind heiß. Sie spüren keine Schwäche, sie haben keine Beschwerden, sie sind Kämpfer, sie wollen, dass es los geht.

Am Spieltag stehen die „Jungs“ früh auf –es ist noch nicht Mittag. Sie joggen ein paar Minuten, um „anzuschwitzen“. Mittags treffen sie sich zum Brunch. Jeder nach seiner Fasson. Es soll gar welche geben, die aufs Vegetarische stehen. Mögen sie ruhig – Hauptsache, auf dem Eis lassen sie das Raubtier raus.

Marco Sturm ist in der Kabine ruhig. Alles sei gesagt, meint er. Die „Jungs“ nicken. Sie müssen jetzt da hinaus.

Volle Halle. Die Kanadier ganz in Rot. Eine wilde Rotte. Einer hat ein Veilchen, rasiert haben sich die Kerle seit Tagen nicht, manche sehen aus wie Holzfäller auf dem Kriegspfad.

Danny aus den Birken richtet es sich in seinem Tor ein. Er wird wohl gut beschäftigt sein. Schließlich ist Kanada besser bestückt. Zweimal Olympiasieger in Folge sind die Gegner gewesen.

Der „Kampf“ nimmt seinen Lauf.

1:0 Brooks Macek (15. Minute)

2:0 Matthias Plachta (24. Minute)

3:0 Frank Mauer (27. Minute)

3:1 Gilbert Brule (29. Minute)

4:1 Matthias Plachta (33. Minute)

4:2 Nathan Robinson (43. Minute)

4:3 Olivier Roy (50. Minute)

„Und David tat seine Hand in die Tasche und nahm einen Stein daraus und schleuderte und traf den Philister an seine Stirn, dass der Stein in seine Stirn fuhr und er zur Erde fiel auf sein Angesicht.“

Das klingt zwar sehr martialisch, aber irgendwie schildert es den Freitagabend in der Eishalle von Pyeongchang recht treffend.

Gegeben wird der Kampf von David gegen Goliath.

David bleibt auf den Beinen, der Gigant ist am Boden. Die deutschen Spieler pfeffern nach dem Schlusspfiff Helme und Handschuhe übers Eis und feiern, wie es nur die rauesten Rocker des Globus können.

Der Typ mit dem Veilchen heult.

Marco Sturm, Ober-Boss der Deutschen, gratuliert ernst dem gegnerischen Coach, dann verdrückt er sich in einen stillen Winkel. Er braucht erstmal ein paar Momente für sich.

Eine Viertelstunde später tritt er zum Interview an. Marco Sturm hat rote Augen und leistet sich viele kleine Lächeln.

„Es war einfach überragend. Ich habe nicht gewusst, wie die Jungs mit der Anspannung klar kommen würden. Sie waren noch nie in so einer Situation. Aber sie haben gemacht, was wir uns erarbeitet haben. Sie haben verdient gewonnen. Das Spiel zeigt den Charakter der Mannschaft. Die Jungs sind hier über sich hinaus gewachsen, sie haben Unglaubliches geschafft. Und es ist ja noch nicht vorbei. Jetzt sollen sie ein bisschen feiern, ich gebe ihnen auch ein Bier aus. Dann haben wir zwei Tage, dann kommt Russland.“

In der Heimat hört sich das abends als Top-Meldung der „Tagesschau“ so an:

„Zum ersten Mal in der Geschichte der Olympischen Winterspiele hat die deutsche Eishockey-Mannschaft ein Finale erreicht.“

Uff!

Der Boss des deutschen Eishockey heißt Franz Reindl und ist ein alter Fahrensmann seines Sports. Hat selbst – was war das damals für eine Sensation! – in Innsbruck mit der Nationalmannschaft Bronze gewonnen. Das war 1976. Seither hatten die Deutschen nichts mehr in der Weltspitze zu suchen.

Nun darf Reindl schwärmen: „Marco Sturm hat die deutschen Tugenden wie Kampf, Einsatz, Leidenschaft und Wille nach vorne gestellt – das muss gepaart werden mit den technischen Möglichkeiten der Spieler, mit dem läuferischen Vermögen, das sie haben, und mit der Disziplin. Wenn ich schaue, wie wir früher gegen die Großen gespielt haben, immer mit ein bisschen mehr Härte, dann haben wir auf der Strafbank gesessen und die Spiele verloren. Jetzt bleiben die Strafen im Rahmen.

Wenn der Marco in die Kabine kommt und etwas sagt, dann glaubt man ihm das. Er hat keine hochwissenschaftliche Ansprache, er spricht die Sprache der Spieler. Es spricht auch Klartext, wenn ihm etwas nicht gefällt – in einer direkten Art und Weise, aber mit einer positiven Botschaft. Er war als Spieler schlau, er wusste, wo er hingehen muss und wo er nicht hingehen muss. Er wusste, wann er Vollgas geben musste und wann 95 Prozent reichen. Sonst kommst du nicht auf über 1000 NHL-Spiele, sonst bist du nach drei Jahren weg. Und Marco ist als Trainer genauso schlau.

Er nimmt sich für jedes Fachgebiet einen Assistenzcoach. Für Videoanalyse, für die Athletik, für die Spezialteams für Über- und Unterzahl und so weiter. Er überwacht alles, er führt alles zusammen.“

Vor Olympia haben einige gelächelt, wenn der Trainer der Deutschen unermüdlich Optimismus kommunizierte. „Das wird ein schwieriges Turnier, das wissen wir. Die Schweden und Finnen werden besser sein als wir. Norwegen und natürlich die Schweiz werden ebenfalls gut aufgestellt sein.

Nach Olympia werden wir schlauer sein. Wir wollen uns genauso gut wie in den letzten Turnieren präsentieren und weiter steigern. Wenn wir das schaffen, dann werden das Ergebnis und der Erfolg gut sein. Wir werden uns nicht verstecken, in jedem Spiel Vollgas und alles geben und wollen jedes Spiel gewinnen.“

Er vertraue seinen „Jungs“, hat er immer wieder erklärt.

„Ich lege sehr viel Wert auf Disziplin, auf Genauigkeit, will aber auch am Ende Spaß haben. Wir versuchen, mit einer guten Defensive, Stabilität und Disziplin mutig nach vorne zu spielen. Ich achte darauf, dass alle mitmachen. Wenn einer oder zwei anders spielen, haben wir ein Problem.“

Dann sind sie nach Korea gefahren und haben sich eine gute Zeit gemacht, die „Jungs“ und er.

Gemach, meint er nach dem Halbfinale. Gemach, gemach. Sie ist noch nicht abgelaufen, die gute Zeit.

 

Helden III

Sind die Deutschen im Finale des Eishockeyturniers gegen die übermächtigen Russen nur „Kanonenfutter“? Oder „Fallobst“ – so sagen die Boxer, wenn ein tapferer Underdog mächtig Dresche bekommt. Wie schlimm wird die Klatsche sein? „Was für ein Schmarrn!“ sagen die Athleten, „wir spielen um den Sieg.“

 

VORSPIEL

Um kurz vor elf steigen die deutschen Spieler, ihre Trainer und Betreuer aus dem Bus. Sie federn die Stufen runter und schlendern zum Hintereingang der Gangneung Arena. Ein Fernsehteam filmt, eine Handvoll Fans hat sich hierher durchgeschlagen.

Die Helden der Nation sehen gut aus. Nach dem Aufwärmen im Mannschaftsquartier haben sie sich noch einmal frisch gemacht. Elegant bewegen sie sich in ihren roten Jacken und den grauen Trainingshosen. Junge, unternehmungslustige Männer, verwegen, rebellisch, von charmanter Wildheit – ein bisschen wie James Dean in „Denn sie wissen nicht, was sie tun“.

Auch die Russen kommen. Sie entsteigen dem Pullman mit der Wichtigkeit von Terminatoren. Sakko und Binder unter dem roten Anorak, dazu eine rote Mütze. Sie haben schlechte Laune, scheint’s.

Dabei ist bislang alles easy gewesen im Turnier für die „Olympischen Athleten aus Russland“. 23:6 Tore, demoralisierte Gegner, große Überlegenheit – so ist das gewesen. Einer der obersten Eishockey-Funktionäre der Nation hat den Marschbefehl ausgegeben. Wladislaw Tretjak, der mal der beste Torhüter der Welt gewesen ist, hat gefordert: „Das ist eine sehr große Mission für uns. Wir haben über hundert Spieler angesehen, jetzt müssen die Ausgewählten zeigen, dass sie das Vertrauen wert sind.“

Für vier Wochen hat die erste Russische Liga den Laden dicht gemacht, damit sich die Spieler aufs Gold-Abholen vorbereiten konnten. Jetzt werden sie im Finale die Mission abschließen.

Gegner sind nur die Deutschen. Die verputzt ein Eishockey-Russ‘ schon zum Frühstück.

Die Germanen haben sich nicht mal richtig vorbereitet. Eine Woche Trainingslager, ein Testspiel – das war’s.

Unbekümmert legen die deutschen Spieler ihre Rüstungen an. Eine Sensation, dass sie jetzt in der Kabine hocken und sich aufs Endspiel einstimmen dürfen. Noch nie ist eine deutsche Mannschaft im Endspiel gewesen.

Sie sind euphorisch, weil sie es so weit gebracht haben. War ein harter Weg. Misslungener Start beim 2:5 gegen Finnland – die haben 20Mal aufs Tor geschossen und fünf Buden gemacht.   —   Dann Schweden. Die schießen ein frühes Tor, mehr geht nicht.   —    Der erste Sieg, 2:1 gegen Norwegen    —   Der zweite Sieg, gegen Schweden, den Weltmeister. Zweimal Zwei-Tore-Führung. Die Kräfte schwinden. Nachspielzeit. Reimer stochert den Puck ins Netz. Videobeweis. Weiter    —    Dritter Sieg, im Halbfinale gegen Kanada: Großer Kampf, großes Zittern. 3:0, 4:1, 4:3.

Jetzt das Endspiel. Die Russen haben einen Spitznamen in Korea: „Red Machine“.

Die Eismaschinen verlassen die glatte Fläche. Die Gladiatoren dürfen rein.

ERSTES DRITTEL

Trainer Marco Sturm lacht noch einmal, dann geht es los.

Nach 15 Sekunden Strafzeit gegen die Russen. Das tut gut. Dann schießen die nicht gleich das erste Tor.

Auch als beide Teams komplett sind, wogt es hin und her. Die Männer auf dem Eis kämpfen um jeden Puck, ohne Wenn und Aber. Die Russen können ihr schnelles Vordringen ins Drittel des Gegners nicht aufbauen. Das tun sie gerne, denn wenn sie lang genug Druck machen, fällt das Tor zwangsläufig.

Aber diese Deutschen sind bockig. Sie stochern und wühlen in den Ecken, sie sind immer da, keinen Respekt haben sie. Und wenn denn mal ein Russe aufs Tor schießt, steht dort dieser Danny aus den Birken und kascht sich den Puck.

Bis zur 20. Minute bekommt er elf Schüsse, elfmal hält er.

Noch einmal stürmen die Russen. Das kann doch nicht wahr sein – man geht doch nicht mit einem 0:0 gegen die kleinen Deutschen in die Pause.

Noch eine halbe Sekunde, Voinov schießt ein letztes Mal. Er ist ein Schlawiner und ein Outlaw – hat schon mal wegen fehlender Disziplin im normalen Leben gesessen.

Er trifft. Dann ist Pause

Zweites Drittel.

Die Russen haben sich auf Danny aus den Birken vorbereitet. Sie beschießen ihn halbhoch, weil er mit den Schonern auf dem Eis perfekt ist. Also versuchen sie es gar nicht mit Flachschüssen, sie wollen ihn in Höhe des Gesichts passieren.

Aber das sind nicht die Russen aus den bisherigen Spielen. Sie stürmen nicht bedingungslos, der Angriffs-Zunami bleibt aus. Sie warten ab, lassen die Deutschen kommen.

Einmal kurvt einer eine halbe Minute ums Tor von Danny aus den Birken, ohne einen Abschluss oder einen Pass zu wagen. Es ist fein anzusehen, wie wundervoll der Mann Schlittschuh läuft – aber er erreicht nichts.

Irgendwann klaut ihm ein Deutscher den Puck von der Kelle.

Minute elf. Konter, steil auf Schütz, der passt von rechts in die Mitte, wo Hager den russischen Goalie stört. Der Torwart lenkt die Scheibe ins Tor. Die Russen wollen es nicht glauben, fordern den Videobeweis.

Der Schiedsrichter schaut genau hin. Fährt zurück aufs Eis und sagt:

„There is no kicking action. It’s a good goal.“

1:1.

Gleich drauf eine Strafzeit gegen Reimer. Er hat gehakt.

So verspielt man, was man aufgebaut hat.

Nicht Marco Sturms „Jungs“. Sie stemmen sich gegen die kreiselnden Russen, sie lupfen den Puck aus der Gefahrenzone, sie schlagen ihn weg, sie schlenzen ihn in Richtung Russen-Tor

Noch vier Minuten. Die Deutschen drücken und schießen, warten auf Abstauber. Die Russen kontern.

Wieder rutscht einer, es ist Reimer, übers Eis und blockt mit seinem Körper einen Schlagschuss. Der Verteidiger kommt auf die Beine, etwas später ruht der Puck vor einem Bully. Aus den Birken hat endlich Gelegenheit, sich bei seinem Spezl zu bedanken. Er bedankt sich immer.

Das Drittel ist zu Ende. Es steht unentschieden.

Die deutschen Fernsehleute bauen eine Schalte in die Heimat auf. Der Moderator redet mit Eishockey Legende Alois Schloder. Der schaut das Spiel daheim in Landshut mit Freunden.

„I bin heit um hoibe zwoa aufgstandn, nachad hob i mir denkt: Wann stehst‘n Du so friah auf, Alois? Bei da Mondlandung war des, wenn da Muhammad Ali kämpft hat – und jetzad, wo de Buam spuin. Ein Wahnsinn is des.“

Die vom Fernsehen schalten nach Berlin zum Public Viewing. Der Spencer hat „keene Stimme mehr. Der Herr Schloder hat et schon jesacht. Et jibt nich viele Augenblicke, die man erlebt haben muss. Mondlandung, da war ick noch nich jeborn, Ali is mir schnurz. Aber Eishockey heute: Wer dit nich jesehn hat, den bestraft et Leben.“

Letztes Drittel

Erste Chance nach einer Minute für Deutschland.

2:1. Nikita Gusev aus Sankt Petersburg, ein Mann mit tollen Händen, hat geschlenzt. Die Deutschen am Boden. Das war’s.

Oder?

Bully. Angriff, zehn Sekunden nach der russischen Führung. Kahun. 2:2

Dann Jonas Müller, drei Minuten sind noch zu spielen. Der Youngster bekommt den Puck links vor dem russischen Tor. Er wartet, wartet, wartet. Zieht ab, unten durch die russischen Torwart-Schoner. 3:2. Jetzt gibt es obendrein eine Strafzeit für Kalinin.

Das ist Gold.

Oder?

55 Sekunden vor dem Ende kämpft Gussev links vom deutschen Tor. Es ist ein Getümmel. Gussev streckt sich und schlägt blindlings in Richtung Tor, der Puck fliegt über die Schulter von Danny aus den Birken.

3:3.

Der Alois wird zugeschaltet: „Ein Volleyschlag wia beim Golf – und dann is der drinna, des geht doch net. De schiassn auf de Maske vom Danny, und der geht nei, des ist doch der Wahnsinn.

A Traum und a Alptraum.

Was soll der Trainer jetzad dene Buam sagn? Des is ja furchtbar. I woaß aa net. Ah, geht’s zua, Burschn! Weita! Weita! Weita!“

Spencer krächzt in Berlin: „Emotion pur. Wir zwingen de Russn in de Verlängerung um Gold. Hey Mann, da kriechste Fieber. Oder Tollwut oder wat.“

OVERTIME

Das Eis ist wieder glatt. 15.42 Uhr.

Vier gegen Vier. Die Russen sind technisch besser. Versierter. Erfahrener. Russischer.

Noch dreizehneinhalb Minuten. Kowaltschuk ist durch, Danny aus den Birken blockt den Unhaltbaren mit dem linken Schoner.

Dann:

Die dritte Strafzeit für die Deutschen Reimer.

Hoher Stock.

Vier Russen gegen drei Deutsche.

Sie passen von links nach recht, diagonal, nach links, nach rechts. Gussev. Oinov. Gussev. Rüber zu Kaprizov.

Schlagschuss.

Tor.

Man schreibt die 70. Minute.

NACHSPIEL

Die Russen bekommen die Olympische Hymne. Da pfeifen sie drauf. Aus vollem Hals und mit einem erleichterten Lachen brüllen sie „Einen weiten Raum für Träume und fürs Leben / Eröffnen uns die kommenden Jahre. / Kraft gibt uns unsere Treue zur Heimat. / So war es, so ist es und so wird es immer sein.“

Sie sind sehr müde und sehr stolz. Und voller Respekt für die kleinen Deutschen.

Die berappeln sich nach zehn Minuten der Trauer. Betrachten stolz ihre Silbermedaille. Freuen sich, dass ihr Christian Ehrhoff nach dem Tränen-Trocknen die deutsche Fahne bei der Schlussfeier tragen darf.

Und sie freuen sich aufs Deutsche Haus. Das ist nämlich nicht wie geplant schon geschlossen. Wegen der Bobfahrer, der Langläuferinnen und der Eis-Helden steht am Abend noch eine große Sause an.

Und eines ist sicher: Ins Quartier wollen die Helden nicht. Sie werden direkt von der Feier zum Flieger fahren. Drunter machen sie es nicht bei ihrer Sieger-Feier.