ES WAR EINMAL
berlin, 8. april 2015
Mit 73 hat Ursula den Magister geschafft. In Arabistik. Note: 1,7. Respekt! Jetzt gönnt sie sich eine kleine Pause, dann geht es weiter mit dem Nachdenken darüber, was uns und die Menschen im Nahen und Fernen Osten verbindet. Ursula aus Schöneberg will dem Phänomen ein wenig auf den Grund kommen. Das ist kein Märchen, echt!
Ursula hat sich Kuchen in der Bäckerei an der Hauptstraße besorgt. Tolle Nervennahrung, die kann sie gut brauchen. Die vergangenen Monate waren anstrengend. Die 73-Jährige büffelte für die letzten Prüfungen, sie schrieb ihre entscheidenden Arbeiten, da rief der Sohn an, er brauche ein wenig Unterstützung.

Ursula, frisch gebackener Magister, große Pläne. FOTOS: BARBARA VOLKMER
Natürlich hat sie geholfen und eine Weile auf die Enkel aufgepasst. Ursula hat sich nie um die Pflichten gedrückt. Weder im Beruf als Lehrerin an einer Steiner-Schule – und auch nicht, wenn es um die beiden Töchter und den Sohn ging.
Nun also Enkel-Betreuung, zur Unzeit. Aber Ursula hat es auf die Reihe bekommen. Den Enkeln geht es prächtig, und den Magister hat sie toll gemeistert.
Jetzt wird sie sich, nach einer kurzen schöpferischen Pause, einem Lieblingsthema widmen.: Sie wird Märchen aus unserem Kulturkreis mit den Märchen aus den Ländern ihrer Träume vergleichen.
“Ich glaube”, sagt sie, “das wird mich intensiv beschäftigen.”

Wörter, Wörter, Wörter. Und die Geschichten enden nie…
In der Tat, da nimmt sie sich eine unendliche Geschichte vor. Märchen faszinieren den homo erectus, seit er in Höhlen Tiere an die Felsen kritzelte. Und Märchen gibt es auch in der IT-4,0-Zeit.
Es war einmal, sagt einer – und schon ist man im Zuhören gefangen.
„Einmal ging ich zur Großmutter: Großmutter, erzähl mir ein Märchen.
Ich erzähle dir ein Märchen. Doch zuerst musst du mir eine Schüssel Milch bringen.
Ich ging zur Kuh…“
Dann eine irrwitzige Odyssee. Bis zum Meer fragt sich das Kind durch. Dann endlich ist es bereit für den Rückweg:
„Das Meer gab mir Wind für die Eiche, die Eiche gab mir einen Sack Eicheln für das Schweinchen. Das Schweinchen gab mir Speck für den Schmied, der Schmied gab mir eine scharfe Sense für die Wiese. Die Wiese gab mir einen Tragekorb voll Heu für die Kuh, die Kuh gab mir eine Schüssel Milch für die Großmutter.
Und die Großmutter begann mir Märchen zu erzählen.“
So hört sich das in Frankreich an.
„…,so erzähle uns von deinen schönen Geschichten, daß wir die Nacht dabei durchwachen, vor Tagesanbruch will ich dir dann Lebewohl sagen, denn ich weiß ja nicht, wie es morgen mit dir enden wird.’ Schehersad fragte den Sultan um Erlaubnis, und als er diese erteilte, ward sie hocherfreut und begann:
Man behauptet, o glückseliger, einsichtsvoller König, es sei einmal ein reicher, wohlhabender Mann gewesen, der viele Güter, Sklaven, Bediente, Weiber und Kinder besaß, und in allen Ländern Waren und Schulden ausstehen hatte. Dieser bestieg einst sein Tier, nachdem er einen Quersack mit Lebensmitteln, aus Zwieback und mekkanischen Datteln bestehend, gefüllt, und reiste nach Gottes Willen viele Tage und Nächte. Gott hatte ihm eine glückliche Reise bestimmt, und er erreichte das erwünschte Land, machte seine Geschäfte dort ab, und trat die Rückreise nach seiner Heimat und zu seiner Familie an. Als er am dritten, vierten Tage auf der Reise war, ward ihm sehr heiß…”
So hört sich das in der ersten von tausendundeins Nächten an.

Die Karawane zieht weiter. Und die Erzähler sind immer dabei.
Ja, sagt Ursula lächelnd. Die Märchen, die sie ihren drei Kindern erzählt hat und die heute in Kairo kursieren, sind aus dem gleichen Stoff. Das wird sie jetzt untersuchen in Schöneberg.
Nur eines wird sie nicht machen: Sie wird sich nicht mit Texten aus dem Sudan beschäftigen. Zu brutal. Nicht freigegeben. Nicht ab 18, und auch sonst nicht.
Das will sie nicht wissen: Wenn es Märchen Horror wird.