“UND?”

Startschuss: 17. August 2019, 6.00 Uhr. Zielschluss: 18. August 2019, 12.00 Uhr. Dazwischen: 160 Kilometer zu Fuß rund um Berlin. Das Event heißt “Mauerweglauf”. In “Vettensjournal” das Protokoll. Es beginnt am 9. März 2019 und endet am 17. August: 22 WOCHEN.

Wir schreiben den 1. April, hier drinnen im Wartezimmer ist freilich niemandem nach Scherzen zumute. Gerade hat sich eine mollige Polin zu uns gesellt – sie hat gestern wohl gut gegessen, es riecht sehr schnell nach ausgeschwitztem Knoblauch und Bier. Der Rock der Frau ist etwas kurz, die Bluse eine Nummer zu eng. „Darf ich“, fragt sie lachend und sitzt und schwitzt. Dazu bearbeitet sie schnaufend ihr Handy.

Die meisten hier blicken auf ihr Smartphone. Keiner tippt etwas ein, alles gucken aufs Display. Keine Kraft, selbst zu schreiben. Lesen ist anstrengend genug.

In der Mitte des Raums bleiben die zwei Stapel Magazine auf dem verschossenen Tisch unberührt, der Ton des Wandfernsehers ist ausgeschaltet. Stumm laufen die Zehnuhr-Nachrichten bei ntv. Dortmund wieder Tabellenführer — Die Brexit-Britin May ist immer noch im Amt — Streik! Ganz Berlin im Stau — Sebastian Vettel hat in der Formel 1 Mist gebaut, ganz schlimm für ihn.

Durchs Fenster lasert die Frühjahrssonne. Draußen blüht der Flieder.

Hier drinnen warten alle auf die nächste Ansage. Kurzer Signalton. Pause. Dann wird ein Name durch den Lautsprecher gebelfert, danach eine Zimmernummer. Ein Mensch im Wartezimmer macht sich hastig auf den Weg (nur wenige können sich gut bewegen), die Anderen blicken wieder aufs Display.

Manchmal reagiert niemand. Es vergeht keine Minute, dann ist der Name nicht mehr aktuell. Ein neuer Mensch wird ins Zimmer beordert.

Bei ntv ist es 10.07 Uhr.

Blingeling! Blingeling!

„Herr Loibl! Zimmer 6.“

Er ist ein grauer ausgemergelter Mittvierziger. Grauer, ausgeleierter Anzug, zertretene schwarze Leder-Schnürschuhe. Herr Loibl erschrickt, als er seinen Namen hört. Eilig verlässt er das Wartezimmer.

Dann ist er auch schon wieder da. Murmelt eine Entschuldigung in den Raum, schält mit zittrigen Händen einen blauen Anorak vom Draht-Hänger. Murmelt „Auf Wiedersehen“ und windet sich durch die Tür in den Vorraum. An der Rezeption klärt er noch, wann er wieder erwartet wird, dann ist Herr Loibl – der Mann, dem der Mut abhanden gekommen ist – weg.

Bei ntv ist es 10.16 Uhr.

Blingeling! Blingeling!

„Herr Rammelmeier. Zimmer 7.“

Er ist alt. Geht an Krücken, das macht sehr viel Mühe. Aber Herr Rammelmeier ist ein durch und durch freundlicher Mann. Er lächelt viel, sagt oft Bitte und Danke. Er leidet in stiller Duldsamkeit.

„Tschuldigen’S bittschön“, sagt er, als er sich aus dem Stuhl an die Krücken hievt. Jemand hält Herrn Rammelmeier die Tür auf. Alle verfolgen stumm seine Passage durch den Raum.

Der Weg bis zu Zimmer 7 ist für ihn noch grauslig weit. Herr Rammelmeier hat jetzt kleinen Schweiß auf der Stirn.

Wenig später bekommt er an der Rezeption seinen nächsten Termin.

„Servus“ sagt er heiter. „Bis dann.“

Die Visite beim Arzt hat nicht mal drei Minuten gedauert. Nun ist der Patient erst einmal entlassen in seine Krankheit da draußen.

Eine halbe Stunde später wartet der Willi – er wird bald sterben, das weiß jeder, der ihn sieht – im Treppenhaus auf den Aufzug. Den braucht er, mit dem Rollator schafft er es sonst nicht aus dem zweiten Stock hinunter.

Er stützt sich also auf seine Gehhilfe und schnauft nach dem Arztbesuch durch. Da kommt ein Bekannter die Stufen hoch. Der ist Handwerker, hat eine ordentliche Wampe und ein Biergesicht.

„Ah, der Willi“ plärrt er, als er den alten Mann am Lift sieht.

„Ja, Du! Aa do?!“

Der Andere baut sich vorm Willi auf. Seine Frage dröhnt durchs ganze Treppenhaus.

„Und?“

Willi zuckt mit den Schultern. Jämmerlich sieht er aus.

„Woaßt eh, wia’s is.“

Das will der Andere gar nicht hören.

„Verstehe. Aba bessa, ma jammert net. Konnst eh nix ändern. Es is wia’s is.“

Der Aufzug kommt. Willi schiebt den Rollator rein und sich hinterher. Weg ist er.

Gottseidank.