TEMPI PASSATI
Startschuss: 17. August 2019, 6.00 Uhr. Zielschluss: 18. August 2019, 12.00 Uhr. Dazwischen: 160 Kilometer zu Fuß rund um Berlin. Das Event heißt “Mauerweglauf”. In “Vettensjournal” das Protokoll der Vorbereitung. Es beginnt am 9. März 2019 und endet am 17. August: 22 WOCHEN.
DOPPIO PASSO / SALENTO / INDICAZIONE GEOGRAFICE TIPICA / PRIMITIVO / e caratterizzato dal colore rosso intenso, dal corpo pieno e dal carattere intenso ed unico / 2017
Ein Mann sitzt am 1. Mai 2019 vor dem Fernsehapparat und möchte am liebsten den Rest des „Primitivo“ weg picheln. Eine geöffnete Flasche steht halbvoll auf dem Esstisch, eine weitere ist noch verkorkt. Der Wein soll exquisit sein (so hat es Sabrina geschildert, bevor sie nicht mehr viel reden wollte). Wie angepriesen: Stierblut-rot. Das Aroma hat die Wohnstube erobert, es erinnert an eine kleine Dorfbar gegenüber der Kirche, es riecht nach Versöhnung zwischen Don Camillo und Peppone, nach einer Abenteuer-Reise durchs unbekannte Italien, nach einem gepflegten Betrunken-Sein, nach einem satten Vergessens-Rausch.
Es ist 20 nach zwei – und der Hessische Rundfunk zeigt Live-Bilder von einem Radrennen rund um Frankfurt. Die Fahrer haben 90 Kilometer hinter sich gebracht, sind über den Feldberg geradelt, stampfen nun eine schlimme Steigung am Mammolshainer Berg hoch. In mehreren Reihen säumen die Zuschauer die Straße, flippen zur Rockmusik aus. Die Athleten sehen konzentriert und stark aus. In Hessen scheint die Sonne, am Horizont ist die Frankfurter Skyline zu erkennen.
Der Mann vor dem Fernseher könnte vors Haus im Dachauer Moos treten, da schiene ihm auch die Sonne ins Gesicht.
Aber Hans Krohn hat die Vorhänge zugezogen. Sabrina ist versorgt, er hat ihr Kartoffelbrei und Tee gebracht, stöhnend hat sie gegessen und getrunken, ist zurück ins Bett gesunken, jetzt schläft sie wieder, und nichts wird sie wecken.
Also kann Krohn die Lautstärke aufdrehen. AC/DC:
Living easy, living free / Season ticket on a one-way ride / Asking nothing, leave me be / Taking everything in my stride / Don’t need reason, don’t need rhyme / Ain’t nothing I would rather do / Going down, party time / My friends are gonna be there too / I’m on the highway to hell / No stop signs, speed limit / Nobody’s gonna slow me down
Das war sein Gefühl damals, als er in Frankfurt lebte. Für ihn war immer Party, niemand konnte ihn stoppen, er nahm alles an, jede Herausforderung, alle Frauen, jede Steigung, jedes Saufen; frei war er, ein heiterer unbedachter Leichtfuß.
Der Taunus war sein Revier. Da kannte er alle Steige und Straßen. Der Taunus in der Brüllhitze des Sommers, die Berge bei Schneefall, das Land im Sturm und Regen und in Unschuld.
Krohn erinnert sich an die Körperschmerzen und an die Triumphe. An das zuvielte Bier in der Fuchstanz-Wirtschaft. An das Zischen beim Öffnen der Dose, wenn er nach langem Lauf endlich wieder in der S-Bahn zurück in die Stadt saß.
Krohn erinnert sich an seinen Körper von damals. Der konnte noch so kaputt sein – wenn Krohn, frisch geduscht, wieder in der City war, zwinkerte er den Frauen zu, sie plinkerten zurück.
So war das.
Vorbei. Tempi passati. Sind gute Zeiten gewesen.
Jetzt hockt er in der abgedunkelten Stube und muss an sich halten, weil er nicht saufen will. Er würde es nicht genießen. Er würde den Wein vernichten und die Kontrolle über sich komplett verlieren.
Also Hände weg vom Wein.
Ohnehin: Der Primitivo gehört Sabrina, und so soll es sein.