SUFF
„5.45“ — Krohn wird umziehen. Weg aus der lauten Stadt. Weg in die Welt. In den letzten zwei Monaten sieht er sich noch einmal um. Lokaltermine, morgens um dreiviertel sechs in Berlin und im Brandenburgischen. Teil 6, Thorwaldsenstraße, es ist der 6. Juni 2018.
Zwei Bauarbeiter warten auf ihre Kollegen und trinken Kaffee aus Bechern. Noch ist der Verkehr stadteinwärts licht, in einer Stunde werden sich hier die Autos stauen.
Einer der Bauarbeiter sagt: „War ‘n Fehler.“
„Wat?“, fragt der Kollege.
„Na, dat er den Sané nich mitnimmt, der Löw. Der wird uns fehlen bei der WM.“
Der Kollege sinniert. Könnte sein, dass der Andere Recht hat. Sané hat nicht toll gespielt gegen Österreich. Aber schnell ist der Bursche – und überhaupt der teuerste deutsche Spieler überhaupt.
„Der wird sich schon wat jedacht ham, der Jogi.“
„Nee, hatta nich. Der kann den Sané nich leidn.“
Der Kleinbus mit den anderen Arbeitern hält. Die Beiden kippen den letzten Rest Kaffee runter und steigen ein. Es wird ein heißer Tag auf der Baustelle – soviel ist schon mal sicher. Davon macht sich einer wie der Sané keine Vorstellung.
Krohn denkt an körperliche Arbeit, dann wird er von dem Schild abgelenkt.
„Vivantes Auguste-Viktoria Zufahrt Rettungsstelle“
Kennt er, das Schild; kennt er gut.
Damals war auch WM.
Mann, ist schon lange her. Aber er meint, es sei gerade eben erst passiert.
Hans Krohn sieht den Schlagbaum, den die Notfälle passieren; davor der Parkplatz für Akutfälle, die mit dem Privatwagen kommen. Er erinnert sich, dass Sabrina sehr achtsam den Wagen abstellte, ausstieg, ums Auto ging, ihm öffnete und sagte: „Komm, Lieber, es ist nicht mehr weit. Das ist richtig, was Du machst.“ Er war ausgestiegen wie ein alter Mann. Hatte noch gedacht, er könne in dieser Verfassung nicht mal mehr weglaufen, nun sei es ohnehin egal.
Er war Sabrina gefolgt wie ein Vieh beim Almabtrieb.
2014, es ist Freitag, der vierte Juli. Sonne. Krohn ist am Nachmittag zum Supermarkt geradelt. Auf dem Rückweg hat er sich an den See gesetzt, eine Flasche Wein getrunken und nachgedacht. Dann weiter, sehr wackelig.
Am Haus machte er die nächste Flasche auf. Noch eine Stunde bis zum Spiel.
Er versucht zu schreiben. Irgendwas.
Das wird er wohl später nicht mehr lesen können.
Wenn er so weiter macht, stirbt er.
Hans Krohn ruft Sabrina an. Sie sind kein Paar mehr, aber ihm ist niemand sonst geblieben.
„Ja?“
„Sabrina?“
„Hans, bist Du das?“
„Ja, ich.“
„Was ist mit Dir, wo bist Du?“
Er erzählt. Wirr und verwaschen. Sabrina versteht.
„Was willst Du machen?“
Aufhören müsse er. Aber er traue sich nicht. Den Entzug bekomme er nicht hin. Ehrlich – er wisse nicht, was er tun werde.
„Is ja auch egal“, sagt er.
„Das kann ich nicht mehr hören. Egal! Egal! Nichts ist egal. Hör‘ zu, ich weiß, was wir tun. Ich hole Dich. Wir fahren Dich ins Krankenhaus, da passen sie auf Dich auf, wenn Du aufhörst mit dem Trinken.“
Nein. Kein Krankenhaus. Oder? Ihm kommt eine Idee.
„Wann würdest Du denn kommen?“
Na, heute sei es ein bisschen spät. Sie würde den Wagen bei einer Freundin leihen und morgen früh aufs Land fahren. Da sei man spätestens mittags wieder in der Stadt.
Krohn lächelt. Wieder ein Tag Saufen geschenkt.
„So machen wir es. Morgen vormittag?“
„Ja, Schatz. Trink nicht soviel heute Abend. Morgen bin ich bei Dir. Schlafe gut, ich denke an Dich.“
Hans Krohn schaltet das Handy aus.
Er geht noch duschen, rasiert sich, zieht frische Wäsche an, sucht ein paar Klamotten zusammen. Fröhlich ist er, während er die Tasche packt, schenkt er das Glas immer wieder voll.
Ein schöner Tag.
Aufs Essen kann er verzichten. Er hat noch Erdnüsse.
Nächste Flasche.
Er fällt hin. Uihh, das gibt blaue Flecken. Am Kinn und am Arsch.
Macht nichts, morgen kommt alles in Ordnung.
Das Spiel beginnt. Viertelfinale. Frankreich. Prost. À la tienne, Hans.
Die Deutschen gewinnen 1:0, das bekommt er aber nicht mehr mit.
Am nächsten Tag weckt ihn Sabrina. Er ist immer noch betrunken.
Sie trägt die Tasche zum Auto, Krohn trinkt den Wein zur Neige. Dann steigt er ein.
Sie fährt und redet. Er sieht zum Fenster hinaus und schweigt.
Der Mais wird gut in diesem Jahr, die ersten Wiesen sind gemäht. Kompromisslos gut gelaunte Sonne. In den Dörfern Menschen, die zu tun haben. Sie alle tun so, als ob es ein Morgen gäbe.
Sabrina erzählt von ihrem neuen Job und von der Suche nach einer neuen Wohnung. Ihrem Vater geht es nicht so gut, vielleicht muss sie in den nächsten Wochen nach Hause, er ist schließlich schon alt, da weiß man nie. Ihre Freundin hat einen Neuen, ganz netter Typ. Wie es ihm gerade geht? Naja, Entschuldigung, blöde Frage.
Sie sieht gut aus. War öfter in der Sonne, trägt ein enges kleidsames Oberteil und einen sehr kurzen Rock. Eine gute Frau. Warum hat man sich eigentlich getrennt?
Egal.
Die Stadt. Auf der Autobahn kämpfen sie miteinander. Flugzeuge landen, Krohn gehen Bilder von Mallorca und den Kapverden, von Hawaii und Alaska durch den Kopf. Das macht ihn verzweifelt. Er wird wohl nie mehr in einem Flieger sitzen.
Betrunken ist er immer noch, Gottseidank. Aber der Rausch beginnt unangenehm zu werden. Vielleicht sollte man an einer Tanke noch ein Bier besorgen.
„Nein, wir fahren jetzt ins Krankenhaus.“
Hans Krohn fügt sich.
Eine Ärztin.
Jung. Müde. Berufsfreundlich.
Die alten Fragen.
Das letzte Mal getrunken, wann?
Wie lange getrunken?
Orientierung okay? Der Wievielte ist heute?
Sonst noch was? Tabletten? Drogen?
Der Blutdruck macht ihr „Sorgen“. So ein Quatsch, ihr macht doch sein Blutdruck keine Sorgen.
Wie er sich alles vorstelle?
Entzug, aha. Na, ist ja gut, dass er gekommen sei, so ein kalter Entzug ist schließlich lebensgefährlich, das wisse er ja wohl.
Gut, dann bekomme er jetzt ein Bett und die Medikamente. Morgen sehe man weiter.
Sabrina küsst ihn zum Abschied auf die Wange. Sie komme am nächsten Tag vorbei, versprochen.
Die Tür, durch die sie abgeht, schließt sich automatisch mit einem leisen Zischen.
Hans Krohn wird auf Station gebracht. Er legt sich in ein wohl riechendes sehr weißes Bett, sagt dem Nachbarn Guten Tag und lässt mit sich machen. Sie geben ihm was.
Dann is auch gut.
Am Sonntagmorgen fühlt sich Hans Krohn prächtig. 16 Stunden hat er geschlafen, mit Appetit gefrühstückt, sich gegen den Willen der Pfleger ausgehfertig angezogen.
Die Ärztin will wissen, wie es „uns heute geht“.
Er kann sie nicht leiden.
Er werde das Krankenhaus verlassen, sagt er.
Sie blickt von ihren Papieren auf.
Erstaunt.
Ungläubig.
Dann missmutig.
Strafend.
„Kommt nicht in Frage“, sagt sie. „Sie sind mitten im Entzug.“
„Ich gehe.“
„Soll ich Ihnen sagen, was Sie für einen Blutdruck haben? Sie riskieren Ihr Leben, wenn Sie jetzt gehen.“
Er erklärt, dass er den Vortrag kenne. Dass er auch wisse, was er dürfe und was nicht. Er werde nun auf eigene Verantwortung die Klinik verlassen. Wo er unterschreiben solle?
Die junge Ärztin schiebt wütend ein Formular über den Tisch.
Er verlässt das Gebäude. Die automatische Tür zischt, er tritt in einen sonnigen Tag. Pfeift ein Lied, während er die Thowaldsenstraße stadteinwärts wandert. In einer Kneipe trinkt er ein kleines Bier, das ihm trefflich schmeckt. Mit den Öffentlichen fährt er nach Spandau, dort kauft er Bier und Brot für die Fahrt. In Neuruppin kauft er Wein für den Sonntagabend.
Der See schimmert freundlich. Er hat einen sehr innigen Rausch an diesem Abend.
Am übernächsten Tag gewinnt Deutschland gegen Brasilien mit 7:1.