LOSE SITTEN

berlin, 23. april 2015

Der lebenskluge Heinrich Zille hat schon gewusst, warum er Berlin so gemocht hat. Die Stadt war sein Jungbrunnen: “Am Tage: Arbeit, ernster Wille, / Abends: einen Schluck in der Destille. / Dazu ein bisken Kille-kille, / Das hält munter.” Das mit der Arbeit ist schwer okay. Das mit der Destille – naja, das lassen wir mal so durchgehen, ab und an. Aber die Sache mit dem “Kille-kille”: Die geht gar nicht.

So jedenfalls sehen das ein paar emsige Sittenwächter in Friedrichshain/Kreuzberg. Ein Jahr arbeiteten dort zwölf Frauen (und ein Mann) die Kriterien dafür aus, welche Darstellungen auf Werbeflächen künftig untersagt sind. Jetzt legte die „AG gegen sexistische, diskriminierende und frauenfeindliche Werbung“ ihr Acht-Seiten-Papier vor. Es soll das Modell für die ganze Stadt werden.

Verboten ist laut Kreuzberger Arbeitsgruppe Werbung, …

Zitat Anfang:

  1. … die vermittelt, dass Frauen zwar schön sind, aber dumm bzw. nicht so strategisch wie heterosexuelle, gesunde Männer.
  2. … in der die Frau kaum oder sehr körperbetont bekleidet und ohne Anlass lächelnd inszeniert wird.
  3. … in der sich die Frau in ihrer Position unter dem Mann befindet.
  4. … die bestimmte Rollenbilder vermittelt. Betrifft auch Kinder, die als stereotype Jungen (Farbe Blau, spielt mit Technik) und Mädchen (Farbe Rosa, spielt mit Puppen) dargestellt werden.
  5. … die vermittelt, dass (altersbedingte) Hautveränderungen, Übergewicht, Körperhaare etc. zwingend veränderungsbedürftig sind, um ein glückliches Leben zu führen.
  6. … die vermittelt, dass die dekorative Frau ebenso käuflich ist wie das Produkt.
  7. … die vermittelt, dass die mit einem Produkt dargestellte Frau sexuell erregt oder für den männlichen Betrachter ein Lustobjekt ist (z. B. Werbung für Unterwäsche, Sport-, Badekleidung).
  8. … für sexuelle Dienstleistungen.
  9. … die Kinder, insbesondere Mädchen, in sexualisierten Posen und/oder aufreizender Kleidung inszeniert.
  10. … die vermittelt, dass der Einsatz von verbaler bzw. körperlicher Gewalt insbesondere gegenüber Frauen legitim und/oder zumindest tolerierbar ist.

Zitat Ende

„Wir sind nicht gegen Werbung, aber gegen die Stigmatisierung von Frauen als unterwürfige, schwache Menschen, die oft nur als Lustobjekte dargestellt werden“, sagt AG-Mitglied und Mitstreiterin im Frieda-Frauenzentrum Maja Wegener (37).

Erregt haben sie und ihre Mitstreiter sich wegen einer Reklame, die unter anderem die Wilhelmstraße schmückte. Süße junge Frau, untenrum und obenrum edel verpackt. So ein richtig wunderbares, lockend-lächelndes Lustobjekt. Da fuhren die Autos schon mal ein bisschen langsamer, weil die Fahrer sich den körperbetonten Auftritt genauer ansehen wollten.

Ist diese Reklame wirklich so dreist? Nichts wie auf zur Sittenwacht!

Der Weg zum Ortstermin führt durch ganz Kreuzberg und halb Friedrichshain. Es ist der 23. April, die Menschen dürfen jetzt endlich die Frühlingsgefühle auspacken. Haben sie auch echt nötig, denn die Stadt hilft ihnen nicht auf die Sprünge. Berlin ist dreckig und laut. Die Stadt stinkt und von den Wänden und Säulen kommen aggressive Signale. Oder die Botschaften sind einfach täppisch.

Sinnlichkeit, ein bisschen Sünde, ein wenig Lasterhaftigkeit in den Straßen?

Fehlanzeige.

Der enttäuschte Lustwandler wird abgetörnt durch ältere Herren in jugendlichen Posen, verbittert-zornige Theater-Krawall-Macher oder durch Kerle, die einander die Fresse polieren.

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Der Darling von Berlin. Mister Cool ist allgegenwärtig.

 

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Schreie der Lust. Muskelspiele am Anhalter Bahnhof.

 

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Ich hau’ Dir auf die Augen, Kleiner. Körperkult an der Yorckstraße.

Nicht mal an der Wilhelmstraße haben sie der schönen ihr Plätzchen gelassen. Stattdessen grinst da ein Schlagersänger mit Sonnenbrille auf den Verkehr. Klar, dass der Mann keinen Spitzen-BH trägt sondern eine coole Lederjacke.

Die Herrschaften von der AG mag das befriedigen. Die Freunde der Sinnlichkeit haben freilich durchaus Anlass zu traurigen Gedanken. Wo ist es nur, das Berlin, das der Zille so gemocht hat?

Da ging nämlich Leben so:

Um halb viere jeht’s zu Bett –

Mit de Lackschuh – mit’s Korsett!

Else träumt von die Musik –

Bald ja pfeift schon die Fabrik!

Träumt vom Hofball Berlin 0. –

Träumt von ihrem Max und so:

»Knutsch mir! Heute is Ausverkoof!

Küß’ ooch orntlich –! Nich so doof …!”

Mal ehrlich: So ein Text gehört verboten. Sofort. Für immer.

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Schnee von gestern – es war einmal…