KRIEG IM WALD

“5.45”   —   Krohn wird umziehen. Weg aus der lauten Stadt. Weg in die Welt. An den letzten 55 Tagen sieht er sich noch einmal um. Lokaltermine, jeden Morgen um dreiviertel sechs in Berlin und im Brandenburgischen. Tag 3, im Wald vor Rheinsberg.

 

„Was? Nach Bayern? Du? Dein Ernst?“

Das hat sich „Papa Jupp“ in den letzten Jahren angewöhnt:

Er verkürzt seine Sätze aufs Wesentliche. Das bringe der Job mit sich, meint er. Er sei mit seinen Puffs dermaßen überlastet, da müsse er mit den Wörtern haushalten. Die Nutten aus dem Osten verstünden ohnehin gedrechselt-deutsche Sätze nicht, also, was soll’s?

Ja, hat Hans Krohn geantwortet, er mache die Biege. Ab in den Süden. Nun noch ein paar Wochen Berlin und Umgebung, dann sei es Zeit für den Tapetenwechsel.

„Willst nochmal raus? Alles frei aufm Land. Hat Dir doch gefallen da?“

Das war eine gute Zeit gewesen in Jupps Ferienhaus am See, sagte Krohn, das habe ihm damals den Arsch gerettet. Da habe er sich erstmal fangen können, als es ihm dreckig ging. Außerdem sei ihm die Luft gut bekommen.

„Achwas, Luft! Warn die Weiber. Hast doch Weiber gehabt, aufm Land?“

Krohn ließ sich mit der Antwort soviel Zeit, dass er nichts zu sagen brauchte.

Jupp fummelte an einem kiloschweren Schlüsselring, zog einen kleinen Schlüssel ab.

„Sperrste ab, wennde fertig bist. Schmeiß ihn in den Briefkasten. Hab noch zwei hier. Viel Spaß.“

Er musste weiter.

 

Krohn in den Zug nach Neuruppin, weiter mitm Bus und zu Fuß. Jetzt war er aufm Land. Gutes Gefühl.

 

Nächster Morgen um dreiviertel fünf im Wald von Rheinsberg. Nach der Schwärze der Nacht und dem schlimmen Regen ist es nun licht, vielleicht gibt es noch Sonne.

Krohn setzt sich auf einen Baumstumpf und will den Vögeln zuhören. Mächtiges Konzert, das ganz große Orchester.

Krohn will sich Kaffee aus der Thermoskanne in den Becher gießen.

Da fallen sie über ihn her. Auf den Waden sitzen zehn Stück links und zwölf Biester rechts, an den Armen saugen sie sich fest, in den Nacken steuern sie, in den Ohren nur noch das Sirren.

MückenMückenMücken. SibirienMongoleiSchweden.

In der Nacht hat es geregnet, ein Monsun in Brandenburg ist das gewesen. Krohn war in fünf Minuten klitschnass. Aber er scherte sich nicht weiter drum, denn die Luft blieb warm. So hat er nicht gefroren, während er durch den Wald wanderte.

Nun schlüpfen die Biester nach der langen Trockenzeit und stürzen sich auf alles Leben.

Krohn packt die Kanne in den Rucksack und marschiert. Die Mücken folgen. Krohn joggt, so wird er sie los.

Ein 60-Jähriger schwitzender, zunehmend schmutziger Mann trabt durch den Wald auf Rheinsberg zu und atmet hektisch. Die Mücken machen ihn verrückt.

Eine leichte Panik ist das.

„Grüne Hölle“ – das sind die Wörter, die durch sein Denken geistern. Tief neigen sich die Büsche, schwer biegen sich die Äste der Eichen, alles tropft, die Luft ist eine Watte-Masse.

Nach einer Stunde erreicht Krohn die ersten Häuser von Rheinsberg. Er stoppt, wartet. Keine Mücken, alle im Wald hinter ihm, er hat gewonnen.

Noch niemand wach im Ort. Die Gartenzwerge halten Wacht, ein Hahn kräht. Krohn schlendert gemächlich in den Ort. Er hat Zeit, der erste Bus zurück nach Neuruppin fährt um neun, mehr als zwei Stunden bis dorthin.

Die Hauptstraße. Ein Radler schlingert Krohn entgegen. Hebt die Hand zum Gruß. Muss betrunken sein, nüchtern grüßt man hier die Fremden nicht.

Noch ein Radfahrer, diesmal nüchtern geradeaus, die Rechte am Lenker, in der Linken eine Tüte mit Brötchen.

Gute Idee. Krohn marschiert in die Ortsmitte, sieht sich um, ein Stück weiter auf der Hauptstraße stehen Menschen in einer kleinen Schlange auf dem Bürgersteig. Krohn reiht sich ein. Man mustert ihn misstrauisch, er ist nass und dreckig und nicht aus der Gegend.

Er kauft Kaffee, eine Cola und zwei Brötchen. Schlendert zurück zum Platz vor dem Schloss und setzt sich auf einen angeketteten Stuhl vor dem Gasthaus.

Hans Krohn streckt die Beine aus, sieht mit Behagen die saubere Fassade des Schlosses, trinkt einen Schluck, beißt vom Brötchen ab und erinnert sich an den Weißwein von damals.