IRGENDWOHIN
scheisszeitenwende 85
Rosenheim. Innsbruck. Landegg.
Bahnhof Landegg.
Der Intercity nach Zürich hält zwei Minuten.
Gut gelaunte Wanderer poltern in den Wagen. Zwei Männer im Anzug und mit Laptop-Taschen falten sich auf die Sitze, deponieren die Handys auf dem Tisch in der Mitte, belegen mit ihren Mänteln die Plätze neben sich. Sie sind braungebrannt, haben die Haare nach hinten gegelt und zaubern Bierdosen neben die Telefone.
„Geschafft!“, sagt der Eine.
„Ja.“ Sagt der Andere.
Es zischt ein bisschen, die Männer trinken, sie sind durstig und zufrieden.
„Gut“ sagt der Eine.
„Ja“ sagt der Kollege.
Eine Dame sucht Platz.
Apart. Vielleicht 50. Ist in letzter Zeit viel an der Luft gewesen, sie hat frische Wangen. Sie ist reise-schön, mit dezent geschminkten Lippen, elegantem Schuhwerk, Designer-Jeans, einem weißen Longsleeve von Moncler und camelfarbenen Max-Mara-Mantel.
Sie bleibt bei Hans Krohn stehen. Lächelnd sagt sie „Passt schon, gell!“, dann sitzt sie. Zwischen die Füße klemmt sie den Brics-Leder-Weekender.
„Ich kann Ihnen das hinauf heben“, bietet Krohn an.
Sie strahlt ihn an.
„Uihh, das wäre fein. Moment amal, ich muss noch…“
Sie zieht aus dem Reißverschlussfach ein Taschenbuch, steht noch einmal auf, legt das Buch auf ihren Platz und tritt einen Schritt auf den Gang.
Krohn greift sich die Tasche der Dame und hebt sie zur Gepäckablage.
Er setzt sich, die Dame greift ihr Buch und nimmt Platz.
„Danke. Grüß Gott.“
Grüß Gott sagt Krohn.
Blickkontakt. Das könnte mehr werden.
Während der Zug sich zum Arlberg hinauf arbeitet, beginnen die neuen Bekannten ein Gespräch.
Das könnte mehr werden.
Sie erzählen einander sofort Wichtigkeiten.
„Warum nach Zürich? Weiß ich nicht. Einfach irgendwohin. An Zürich denke ich gerne. Nein, habe nie dort gelebt. Aber oft in der Stadt zu tun gehabt. Vielleicht mag ich Zürich, weil ich dort immer eine gute Zeit gehabt habe.
Was danach kommt? Keine Ahnung. Nein, da ist nichts. Niemand wartet, nichts im Kalender. Ja, das ist nicht schön. Aber ich kann es nicht ändern.
Schauen Sie, heute ist ein schöner Tag. Die Sonne scheint, wir fahren über den Berg und reden. Da drüben die Lifte: Da war ich früher immer beim Skifahren. In Lech habe ich mal eine Wohnung gehabt. Nur fürs Skifahren – prima war das.
Jetzt war schon lange nicht mehr beim Skifahren. Zum letzten Mal vor Corona. Das ist ja eine Ewigkeit. Naja. Alles zu seiner Zeit.
Oder?“
Sie hört lächelnd zu. Oben am Arlberg schlägt sie vor, man könne doch auf einen Sprung ins Restaurant. Ihr sei nach einem Kaffee und was Süßem.
Sie haben einen Tisch für sich. Sie trinkt Rotwein, er nimmt Bier.
Jetzt erzählt sie.
Geboren 1960 bei Landegg. Eine Schwester. Ein Bruder, der am Suff stirbt. Der Vater Zimmerer, der zwei Stunden zur Arbeit marschieren muss.
Die Mutter ist für den Rest da.
Die Familie zieht in ein Bergdorf, wo die Eltern ihr Haus bauen. Irene lernt in Innsbruck Handelsfachwirt, sie kommt bei einem Unternehmen in Landegg unter.
Dann der ER. Unternehmer.
Drei Kinder. Johann. Birgit. Irene. Der Vater kann nicht bei den Geburten dabei sein, weil er im Ausland ist. Bei der ersten Entbindung stirbt die Mutter fast.
Man baut sich ein Haus. Villa mit Pool. Man hat einen Gärtner und zwei Hausdamen.
Die Kinder bringen Enkel.
Kurz vor Corona kriegt ER einen Schlaganfall. Danach machen die Augen schlapp. Er sieht immer weniger. Nichts ist mehr bunt und scharf. Das Dunkle kommt von links und von rechts. Mittlerweile ist seine Welt nur mehr ein schmaler Korridor.
Morgens liest sie ihm die Zeitung vor, sie besorgt ihm immer neue Hörbücher. Er lacht nicht mehr.
Es geht gegens Sterben. Aber sie leben.
So gut sie können.
Jetzt ist sie es leid. Jetzt fährt sie erst einmal übers Gebirg‘.
Man bestellt die nächsten Getränke. Die Berge ziehen links und rechts vorbei. Die Berge wiegen sich über den Zug. Das Land wird weiter, man ist in der Schweiz.
Die elegante Frau mit dem toten Leben lächelt.
„Die nächsten drei Tage haben wir keinen Regen. Das ist das Paradies.“