GUDER RAT

Startschuss: 17. August 2019, 6.00 Uhr. Zielschluss: 18. August 2019, 12.00 Uhr. Dazwischen: 160 Kilometer zu Fuß rund um Berlin. Das Event heißt “Mauerweglauf”. In “Vettensjournal” das Protokoll der Vorbereitung. Es beginnt am 9. März 2019 und endet am 17. August: 22 WOCHEN.

Ein Anruf. Sabrina nimmt das Gespräch an. Eine Dame mit sächsischem Akzent will mit ihr reden. Sabrina kennt die Frau nicht, ist ein wenig überrumpelt.

„Ja bitte?“

„Spreche ich mit Frau Pedrotti?“

„Ja, schon – und wer sind Sie?“

„Entschuldigen Sie bitte: Ich rufe von der genetischen Beratung an.“

„Bitte noch einmal. Sie heißen?“

„Rotenberg. Genetische Beratung in München. Wir haben Ihre Nummer von der Klinik, in der Sie operiert worden sind. Die Kollegen haben uns Ihre Einverständniserklärung geschickt…“

„Welches Einverständnis?“

„Sie haben das beim Vorbereitungsgespräch mit dem behandelnden Arzt unterschrieben.“

„Halt! Langsam! Was soll ich da unterschrieben haben? Und von wo aus rufen Sie an? Ich habe da ein paar Sachen nicht richtig mitbekommen, scheint es.“

„Ich bin von der genetischen Beratung.“

„Das heißt?“

„Die genetische Sprechstunde ist ein ärztliches Angebot an alle, die eine angeborene Fehlbildung, Behinderung oder genetisch bedingte Erkrankung haben oder für sich oder ihre Nachkommen befürchten.“ 

„Und noch einmal: Sie haben meine Nummer und eine Unterschrift von meinem Arzt?“

„Exakt, so ist es, Frau Pedrotti.“

„Ehrlich, ich kann mich nicht daran erinnern, so etwas unterschrieben zu haben.“

„Naja, das haben wir öfter. Es ist ja auch eine anstrengende Zeit – so vor der Operation. Sie haben einen Eingriff an der Brust gehabt, nicht wahr?“

„Ja, schon, aber ich glaube nicht, dass ich mit Ihnen darüber reden will.“

„Das ist kein Problem, das geht ganz schnell. Und die Krankenkasse zahlt alles.“

„Was zahlt die Krankenkasse, bitteschön?“

„Nun wir finden gemeinsam heraus – aufgrund der genetischen Beratung eben -, was für Sie die beste Weiterbehandlung ist. Ob es die Bestrahlung ist oder eine eigens abgestimmte Chemotherapie…“

„Aber, Entschuldigung, das ist bei mir schon durch. Das ist alles mit dem Arzt besprochen.“

„Darf ich fragen, wie Ihre weiteren Schritte aussehen werden?“

„Nein, das dürfen Sie nicht fragen. Sie überfahren mich mit Dingen, die ich nicht einschätzen kann. Ihre Informationen machen für mich keinen Sinn. Und ich sehe nicht, was ich davon habe, wenn ich mich auf diese – wie sagen Sie? – genetische Beratung einlasse.“

„Frau Pedrotti, bleiben Sie ganz ruhig. Ich erkläre es Ihnen:“

Jetzt ist Frau Rotenberg nicht mehr zu stoppen. Sabrina lässt sie reden und beißt sich auf die Lippen. Es ist, als ob ein Sprachroboter seine Salven durchs Telefon abschießt.

„Frau Pedrotti, es findet bei uns ein ausführliches Gespräch mit speziell ausgebildeten Ärzten statt. Manchmal sind noch weitere Gespräche notwendig. Oft sind Laboruntersuchungen zur Sicherung einer genetischen Diagnose erforderlich. Bei bereits gesicherter Diagnose ist es möglich, Ihnen ein Wiederholungsrisiko für diese spezifische Erkrankung für Sie selbst oder Ihre Nachkommen in Prozentzahlen zu nennen. Zahlen spiegeln immer Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten eines Ereignisses wider. Selbst wenn ein niedriges Wiederholungsrisiko für eine bestimmte Erkrankung, Behinderung oder Fehlbildung angegeben wird, bedeutet dies nicht, dass das Auftreten ausgeschlossen ist. Bei unklaren Krankheitsbildern und Fehlentwicklungen wird versucht, durch Vergleich mit anderen Fällen und der Fachliteratur eine diagnostische Zuordnung vorzunehmen. Im Einzelfall kann damit eine Aussage über die Ursache und über die Höhe des Wiederholungsrisikos getroffen werden…“

„Was habe ich davon? Und was wollen Sie von mir?“

„Wir schicken Ihnen einen Fragebogen. Den füllen Sie aus, dann machen wir einen Termin – für das Gespräch brauchen wir eine Stunde.“

„Noch einmal: Was habe ich davon?“

„Tja, zum Einen zahlt die Krankenkasse die ersten Leistungen. Dann sieht man, wie weiter in Ihrem Fall verfahren wird. Und sie haben Klarheit.“

„Klarheit worüber? Dass ich Brustkrebs habe? Die habe ich. Der Tumor ist einen Zentimeter groß, man hat ihn rausgeschnitten, der Professor hat die weitere Behandlung definiert. Also: Was ist mein Benefit?“

„Nach der genetischen Beratung sind auf jeden Fall einmal die Daten gesichert.“

Sabrina sagt höflich, sie habe kein Interesse an einer weiteren Unterhaltung. Frau Rotenberg sächselt nun stark und klingt sauer, als sie sagt, wenn das so sei, dann wünsche sie alles Gute.

Sabrina Pedrotti, zornig, legt auf. „Ich lasse mir doch keine Kranken-Schufa aufs Auge drücken“, meint sie und geht zum Ahorn. Haut der Skulptur ein Stück mit dem Stichel weg. Irgendwo muss die Wut schließlich hin.