BAUDELAIRE
scheisszeitenwende 109
Andreas und Jules hatten sich nicht viel zu sagen. Aber in einer Nacht saßen sie plötzlich, ungewollt, in einer Kaschemme und arbeiteten sich zügig durch den Absinth.
Sie lallten einander den Baudelaire zu.
Du bist der Tod, der tröstet und belebt,
Du bist das Ende und der Hoffnungsstrahl,
Der Zaubertrank, der uns berauscht und hebt
Bei unsrem nächtigen Gang durchs dunkle Tal.
Du bist der Glanz, der schimmernd vor uns schwebt,
Durch Sturm und Wetterwolken dumpf und fahl,
Du bist das Obdach, ach so heiss erstrebt,
Du bist uns Schlaf und Ruh und stärkend Mahl.
Du kommst, ein Engel aus geweihten Stätten,
Uns Nackte und Verstossne weich zu betten,
Traum und Entzückung strömt aus deiner Hand.
Des Armen Gut, sein seliges Erretten,
Uralte Heimat du, Erlösung aus den Ketten,
Die offne Tür zum unbekannten Land.
Sie waren sich einig, die beiden Künstler: Absinth ist einfach sündwert.
„Gestern“, sagte Andreas, „hatte ich so einen Traum.“
Gläser klirrten. Kiki kicherte. Der patron gab eine Runde aus.
Es war laut – man musste sich konzentrieren, wenn man Andreas zuhören wollte.
„Ich habe gemalt. Es war nicht hier in Paris – es war in Zürich. Mein Atelier war am Limmatkai. Kennt ihr Zürich?
Na, egal. Ich male und male und male. Es ist Tag und es ist Nacht. Irgendwann kann ich nicht mehr. Ich muss mal raus an die Luft. Vielleicht gehe ich an den See.
Herbst. Alles grau. Der See ist silbern. Silbersee. Keine Menschen.
Ich werfe Bilder in den See. Gehe drüber weg, ich baue mir meine eigene Brücke. Ein paar Vögel dümpeln. In der Ferne ein Fischerboot.
Bild um Bild. Dann bin ich in der Seemitte.
Plötzlich habe ich keine Bilder mehr.
Ich drehe mich um.
Die Brücke ist nicht mehr da. Ich stehe auf dem letzten Bild – es ist ein Selbstporträt, dass ich nicht fertig habe – und kann nicht vorne hin und nicht zurück.
Mitten auf dem silbernen See.
Das Fischerboot ist verschwunden. Die Schneeberge in der Ferne sind weg. Eine graue Unwetterwand schiebt sich übers Wasser auf die Stadt zu.
Die ersten kleinen Wellen kräuseln sich. Der See beginnt zu flüstern. Das Bild unter meinen Füßen löst sich auf.“
„Ist doch ein komischer Traum“, sagte Andreas.
„Ja, ja“, murmelte Jules.
„Prost.“
