AUSGEMUSTERT
Startschuss: 17. August 2019, 6.00 Uhr. Zielschluss: 18. August 2019, 12.00 Uhr. Dazwischen: 160 Kilometer zu Fuß rund um Berlin. Das Event heißt “Mauerweglauf”. In “Vettensjournal” das Protokoll der Vorbereitung. Es beginnt am 9. März 2019 und endet am 17. August: 22 WOCHEN.
So schnell geht das:
Gerade noch der unbekümmerte Alpen-Überquerer. Ein 62-Jähriger, der seine Wochen in „Trainingseinheiten“ einteilt und sich dabei manchmal fast in den besten Jahren fühlt. Einer, der gerade ein Buch fertig geschrieben hat und das nächste in Angriff nehmen wird. Der sich freut, dass Frühling ist und die Röcke wieder kürzer werden. Der Kraft für seine Frau hat.
Und nach einer Nacht ohne Pissen:
Hans Krohn, der Patient.
Gebaumel am Pimmel. Ein alter Mann, den Treppensteigen an seine Grenzen bringt. Einer, der seine Tage in Tabletteneinheiten strukturiert. Frauen gehen ihm am Arsch vorbei. Schreiben ist ihm egal. Ein aus dem Plan Geworfener. Der im Wartezimmer des Urologen sitzt, gedemütigt, entstolzt, ohne Zuversicht. Wie die Anderen.
Der Arzt ist routiniert und schnell. Tastet die Prostata ab – es ist, als stülpe sich da unten alles von innen nach außen.
„Sie können sich wieder anziehen“, sagt der Doktor. Erklärt, dass der Katheter bleiben müsse. Eventuell müsse man operieren, man werde sehen. Es gibt ein Rezept und einen Händedruck.
Am Lift trifft Krohn auf den Willi, der weiß, dass er bald sterben wird.
Krohn nimmt die Treppe, macht einen Abstecher in die Apotheke (die Verkäuferin hat kirschrote Lippen und Katzenaugen, sie gurrt, das Antibiotikum vertrüge sich nicht mit Milchprodukten, und Krohn weiß wieder, wo der Hammer hängt und dass er einen Katheter zwischen den Beinen hat, also gar nicht an Männer-Ideen zu denken braucht), hernach geht er ins Café.
Die Bäckerin erkennt ihn wieder. Ob es gut gehe, möchte sie wissen. Passt schon. Ganz zufrieden ist sie nicht mit der Antwort – ein bisschen mehr Leiden darf schon sein.
„Und – was woll’n wir?“ (hört sich an wie eine Krankenschwester: „Guten Morgen! Wie geht’s uns denn heute?“)
Und? Was woll’n wir?
Einen großen Kaffee bitte.
Selbst das Bestellen eines Getränks fühlt sich scheiße an, wenn Du Dich nicht mehr komplett fühlst.
Das Koffein schießt ins Hirn. Kleine Euphorie:
Das war’s mit „22 Wochen“? Schluss mit Sport? Klein beigeben? Würdig alt und ausgemustert werden?
Oder?
Nein, das war’s gerade nicht mit „22 Wochen“. Jetzt ist der Titel zu einem Programm geworden. Er wird bis Mitte August sein Logbuch schreiben.
Welche Kapitel ihm dabei der Körper vorgibt, weiß er nicht.
Was er aber weiß:
Die Menschen, die er treffen wird, sind es wert befragt, verstanden und beschrieben zu werden.
Was er über die Dinge, die mit meinem Körper passieren, zu erzählen hat, treibt Millionen Menschen um.
Er ist nichts Besonderes, seine Prostata juckt niemanden. Aber ausgemustert mag er auch nicht sein.