KIRCHNER UND SO
scheisszeitenwende 97
Die Erklärung zur Verkostung des Weins gibt Yves beim Einschenken noch im halben Zürcherdeutsch. Er nimmt sich Zeit dafür.
„De Pinot Noir isch e richtig fein, chli härterer Rotwii, aber nöd zu kräftig. De passt perfekt, wenn du am hella Dag mal e Glas Rotwii mit Fründe oder beim Apéro trinksch. Er het de Aromen vo roten Beeri wie Himbeer, Erdbeer und Kirsche, isch aber trotzdem nöd zu süß. Es isch e sehr elegante, frische Variante vo Rotwii, wo sich guet für so’n entspannte Moment eigne tuet, wo mer sich no nöd komplett in die Nacht stürze will. Zum Beispiel zum Zmittag, wenn du en leichten Salat oder es Stück Fisch mit Tomaten und Kräutern hesch, könnt de Pinot perfekt mit dervo harmonieren. Isch wie e wächsiger Begleiter für die wärmeri Stund‘, wo mer immer no e bitz Energie bruucht, aber nöd ganz im Edel-Rotwii-Modus drin isch…“
„Wir haben’s verstanden, Yves. Zum Wohlsein.“
Sie stoßen an
„Wie lange haben wir uns nicht gesehen“, sagt Hans, eher für sich. „Mein letztes Mal in Zürich war ich vor Corona. Wann war jetzt Corona genau?“
Yves nimmt einen langen Schluck. Seufzer der Erleichterung.
Dann strafft sich der alte Mann, bekommt ein strenges Gesicht und doziert (man kann es nicht anders nennen – wenn Yves zeigt, dass sein Hirn Hunderttausende wichtige und unwichtige Wissensstände gespeichert hat, dann gerät er ins Schulmeistern, dann ist er wie eine Naturgewalt der Erkenntnis):
„In der Schweiz wurde COVID-19 am 25. Februar 2020 registriert. Infiziert hatte sich ein 70-jähriger Mann aus dem Kanton Tessin, nahe der italienischen Grenze. Er hatte zuvor an einer Veranstaltung in Norditalien teilgenommen, dort tobte das Virus bereits. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz entwickelte der alte Mann Symptome (Fieber. Husten, meist trocken. Atembeschwerden oder Kurzatmigkeit. Müdigkeit und Erschöpfung. Kopfschmerzen. Gliederschmerzen. Halsschmerzen. Verlust von Geruchs- und Geschmackssinn. Durchfall, Übelkeit.)…
…und wurde positiv auf SARS-CoV-2 getestet.
Die Symptome waren mild, der Patient wurde zu Hause isoliert behandelt. Er hat es überlebt.
In den Tagen und Wochen nach diesem ersten Fall stiegen die Kranken-Zahlen rasch an, insbesondere in der italienischsprachigen Schweiz, und führten im März 2020 zu den ersten landesweiten Schutzmassnahmen und Einschränkungen…“
„Gut, Yves, gut. Was habe ich Dir gesagt, Clara? Der Mann ist…“
„Ja, das ist er. Also habt Ihr Euch vor 2020 zum letzten Mal gesehen. Du hast erzählt, bei Deinem letzten Besuch in Zürich war es sehr heiß, dann…“
„Super, Miss Marple. Dann war das im Sommer ’19.“
Yves erinnert sich. Es war ein wirklich heißer Tag. Er hatte Weißwein und hörte Mendelssohns „Italienische“. Verkauft hatte er seit Tagen nichts – die Menschen waren zu erschöpft für seinen Laden. Ihm sollte es recht sein. Gegen drei stand auf einmal der „Manager“ im Geschäft und war bester Laune. Er hatte sein Unternehmen verkauft und wollte jetzt ein Bild. Yves hatte hinter seinem Schreibtisch noch einen Kirchner (Szene aus den Davoser Bergen), den er eigentlich nicht hergeben hatte wollen. Sie verhandelten drei Flaschen Wein lang – abends zog Hans mit dem Kirchner ab. Und Yves machte seinen Laden für einen heißen Sommermonat zu.
Gutes Geschäft.
„Und?“
Was?, fragt Hans.
„Was machen wir heut‘? Brauchst ein Bild?“
„Hast eins?“
„Aber wie!
Wart‘. Ich hol’s.“
