CHAGALL
scheisszeitenwende 93
Sie trödeln sich durch den frühen Vormittag. Bummeln durchs schöne Zürich.
Stehen vor den verschlossenen Pforten des Fraumünsters.
„Schade. Zu.“, sagt Clara.
„Ja. Magst Du die Fenster auch so? Ich entdecke sie jedesmal neu. Immer, wenn ich nach Zürich gekommen bin, habe ich sie mir angeschaut.“
„Ich verstehe Dich. Gibt es eins, das Du besonders magst?“
„Das blaue an der Ostseite.“
„Ja, das blaue an der Ostseite. Jakobfenster. Schön.“
„Wir schauen es uns heute Nachmittag an, ist das okay?“
„Und wie okay das ist! Ach!“
Sie ist stehen geblieben. Eine schöne Frau, elegant, mit einem traurigen wunderbaren Lächeln. Er sieht nur sie – die Menschen um sie herum verschwimmen zu einem unscharfen Hintergrund-Film.
„Was meinst Du mit ,Ach‘? Warum hast Du geseufzt?“
„Du machst es mir nicht leicht?“
„Wie bitte?“
Sie nimmt ihn an der Hand. Führt ihn zu einer Bank am See. Sie setzen sich und schauen aufs Wasser. Sie nimmt das Gespräch wieder auf.
Sie habe nicht damit gerechnet, dass sie sich noch einmal verlieben würde. Das sei nicht der Plan gewesen. Sie sei einverstanden mit dem gewesen, wie sich alles entwickelt habe.
„Ich war zufrieden. Mir geht es gut, ich habe alles. Es gibt Freunde, ich bin gesund, wir haben ein Haus und Geld. Und ich habe mich damit abgefunden, das alles nur noch so mittel ist. So – ich weiß nicht – so lau, so gedämpft. Ich bin auch oft ins Fraumünster gegangen und habe gedacht, dass mich nicht mal ein Chagall richtig wach macht. Und da bist plötzlich Du.“
„Und?“
„Und ich habe Angst, dass ich mich verliebe.“
„Warum nicht?“
Weil da ihr Leben sei. Der sterbende Mann. Das Haus. Der Alltag, den sie immer meistern kann.
„Und das ist weg, wenn Du Dich verliebst??
Das sei dann ganz weg. Sie wolle doch nicht los springen und dann merken, dass das ein böser freier Fall sei.
„Ich habe Angst, dass es weh tut.“
„Hm. Verstehe. Wollen wir von was Anderem reden?“
„Ist wohl besser. Aber wenn wir schon beim Thema sind…“
„Was für ein Thema?“
„Naja: Liebe. Chagall. Sündenfall. Das alles.“
„Jetzt bin ich aber gespannt.“
„Merk auf und lerne! Ich glaube, jetzt erzähle ich Dir was, was Du noch nicht weißt. Bist Du gläubig?“
„Naja, nicht sehr, denke ich mal.“
„Dann erzähle ich Dir wohl etwas Neues.“
Sie sieht ihn sehr besonders an und kichert. Nach einem letzten Kieks sagt sie ganz feierlich:
„Was ich an uns liebe, ist, dass wir uns auf den ersten Blick sozusagen erkannt haben.“
„Häh? Entschuldigung, was erzählst Du da?“
Clara, als spräche sie von der Bühne, mit gesenkter brusttiefer Stimme:
„Und Adam erkannte seine Frau Eva, und sie wurde schwanger…“
Kunstpause. Dann, stolz:
„Mose, 4,1. Genesis.
Da siehste mal!“

