AUSTHERAPIERT

Startschuss: 17. August 2019, 6.00 Uhr. Zielschluss: 18. August 2019, 12.00 Uhr. Dazwischen: 160 Kilometer zu Fuß rund um Berlin. Das Event heißt “Mauerweglauf”. In “Vettensjournal” das Protokoll der Vorbereitung. Es beginnt am 9. März 2019 und endet am 17. August: 22 WOCHEN.

Dann ist der Tag.

Einziger Gast in der Cafeteria. Kein Interesse an der Zeitung. Keine Wörter, die er aufschreiben will. Hans Krohn rührt im Kaffee, bis der überschwappt. Er sieht dem Betreiber der Cafeteria zu, der neue Lieferungen einräumt. Ein schlanker junger Mann mit kessem Schnauzer und einem bunten Stirnband. Lacht viel, hat immer einen frechen Spruch. Vergisst die Hälfte der Bestellungen, aber niemand mag ihm das übel nehmen. Der junge Mann passt mit seiner Vitalität nicht hierher – doch gerade das tut gut.

Jeremy kommt herein. Ist nicht rasiert, hat das Hemd vom Vortag an. Sieht aus wie einer, der nicht geschlafen hat.

„Darf ich?“ Er setzt sich zu Krohn.

„Klar. Willst Du einen Kaffee? Siehst aus, als könntest Du ihn brauchen.“

Jeremy sagt nichts. Krohn muss allein weiter sprechen.

„Sabrina wird gerade operiert.“

„Hoffentlich geht es gut.“

„Ja hoffentlich. Sie ist sehr tapfer.“

„Ja, das sind sie. Tapfer.“

„Was ist mit Dir? Ist was passiert?“

„Entschuldige.“ Jeremy wischt mit dem Handrücken über die Wange. „Ja, es ist was. Ich habe Dir doch gestern erzählt, dass sie ein Gespräch mit dem Arzt hatte. Sie wollte nicht, dass ich mitgehe.“

„Und?“

„Austherapiert.“

„Was?“

„Die wissen nicht mehr weiter. Niemand weiß weiter. Austherapiert.“

Der junge Mann bringt den Kaffee. Er lacht ausnahmsweise mal nicht, stellt das Getränk vor Jeremy, dazu einen Teller mit zwei Croissants.

„Geht aufs Haus“, sagt der junge Mann und ist wieder weg.

Jeremy muss es los werden. Stockend erzählt er.

Er habe im Zimmer auf seine Frau gewartet. Sie sei gekommen, und er habe gesehen, wie schlimm es war.

Sie habe sich aufs Bett gesetzt und das Wort gesagt.

Austherapiert.

Wie lang sie dann wortlos in diesem Zimmer gesessen hätten, weiß Jeremy nicht. „Wir waren so hilflos. Ich habe doch immer einen Plan B gehabt. Sogar in der schlimmsten Sauferei habe ich mir eingebildet, es würde noch einen Ausweg geben.“

Aber in diesem Zimmer, wortlos neben Jane, fiel ihm nichts ein. Das Aus, dachte er, das ist das Aus.

„Ich habe sie nicht einmal in den Arm genommen. Ich glaube, sie wollte das auch nicht.“

Später sei der Arzt noch einmal gekommen und habe lange mit ihnen geredet.

„Was sollen wir jetzt tun?“, habe er gefragt.

„Weißte, was der gesagt hat. Wir sollen einen kleinen Spaziergang machen. Jane geht es gut im Moment, es tut gut, wenn sie raus kommt aus dem Krankenhaus. Weißte, der hat nicht gesagt, sie soll noch mal raus, solange sie kann – aber wir haben es alle gewusst.“

Jeremy verstummt.

Krohn fällt nichts ein.

„Und? Was wird jetzt?“, fragt er.

„Naja, was wird, was wird. Nichts wird. Das ist ja die Scheiße. Jane hat gesagt, dass sie nach Hause will, sie macht gerade alles fertig. Lässt sich nicht mal beim Packen helfen. Weißte:

Austherapiert ist austherapiert. Da ist nichts mehr.“

Er beißt ins Croissant. Kaut und kaut. Ist still, hat nichts mehr zu sagen.

„Wie geht es denn Dir? Kriegst Du das hin?“

„Wie meinste? Achso, Saufen. Gestern Abend habe ich mir bei der Tanke was besorgt, daheim habe ich‘s ins Klo geschüttet. Das kann ich jetzt nicht bringen. Jetzt saufen, das geht nicht.“

Wenn er helfen könnte, sagt Hans…

Jeremy winkt ab. Er werde jetzt wieder zu seiner Frau gehen. Die sei immer sehr flott beim Packen. Das sei sehr nett, das Angebot. Aber er wisse nicht, was im Augenblick helfen würde.

„Ich melde mich.“

„Versprochen?“

„Versprochen.“

Hans Krohn blickt seinem Bekannten hinterher. Ihm ist übel, deswegen lässt er Kaffee und Croissant stehen. Der junge Mann räumt schweigend ab, nachdem Hans die Cafeteria verlassen hat.

Er ist viel zu früh zurück im Zimmer. Die Operation, hat die Schwester gemeint, würde ungefähr eine Stunde dauern. Dann bringe man Sabrina erst einmal in den Aufwachraum.

„Drei Stunden müssen Sie rechnen. Vor drei Stunden ist sie nicht zurück.“

Jetzt ist nicht mal die Hälfte der Zeit vorbei. Krohn setzt sich auf einen Besucherstuhl in den leeren Raum. Das Bett von Sabrina fehlt, Krohn kommt sich sehr verloren vor (wie in einer Wohnung, die man noch nicht bezogen hat).

Er drückt auf der Fernbedienung – bleibt bei einer Serie aus New York hängen. Polizisten, Verbrecher, eine Entführung, der Sohn eines Polizisten hat einen Unfall und wacht nicht aus dem Koma auf.

Der Polizist sitzt am Krankenbett seines Sohnes und betet – dabei ist er gar nicht gläubig.

Schwenk auf den blassen Kinderkopf. Anschwellender Moll auf dem Klavier. Nahaufnahme des Polizisten.

Die Musik wird drängender. Hans Krohn sieht auf die Stelle, an der vor eineinhalb Stunden noch das Bett mit Sabrina gestanden hat. Als die Schwester nicht im Zimmer war, hat Sabrina das Krankenhemd hoch geschoben und gefragt, ob er ihre Brust noch einmal küssen wolle.

Das hatte ihn erschreckt. „Nein, das will ich nicht“, hat er gesagt und es gleich zu brüsk gefunden. Sabrina hat sich wieder züchtig gemacht.

Dann war die Schwester gekommen und hatte das Bett mit der Frau aus dem Zimmer geschoben.

Jetzt ist der Platz verwaist, und im Fernsehen liegt der Junge noch immer im Koma.

Ein Klavierakkord in Dur. Das Kind im Film öffnet langsam und erstaunt die Augen. Es gibt gute Antworten, es kann seinen Namen sagen, es ist auferstanden.

Hans Krohn hat sich immer wieder vorgenommen, beim Fernsehen nicht zu heulen.

Was soll’s?

Er ist ja allein. Schaut ja keiner her. Sei’s drum.