MEETING
Startschuss: 17. August 2019, 6.00 Uhr. Zielschluss: 18. August 2019, 12.00 Uhr. Dazwischen: 160 Kilometer zu Fuß rund um Berlin. Das Event heißt “Mauerweglauf”. In “Vettensjournal” das Protokoll der Vorbereitung. Es beginnt am 9. März 2019 und endet am 17. August: 22 WOCHEN.
Dann ist der Tag davor.
„Wir müssen“, sagt er. „Du hast Termin, Du solltest nicht zu spät kommen.“
Sabrina trödelt. Sie gießt sich noch einen Tee ein, sie ordnet die Zeitungen (das tut sie sonst nie). Sagt, sie müsse noch einmal zur Toilette, dort braucht sie sehr lang. Kommt ins Wohnzimmer – den Mantel hat sie noch immer nicht angezogen – und fragt, ob alles schon im Auto sei.
Ja, antwortet er, alles im Kofferraum. „Ganz schön viel Zeug. Ist doch kein Umzug.“ Aber wenn es denn sein muss. Es fehlt nur noch ihre Handtasche mit den Papieren.
„Komm“, sagt Sabrina, „umarme mich mal.“
„Nein. Jetzt nicht, wir sind sowieso schon zu spät.“
Sie trödelt sogar, als sie den Sicherheitsgurt anlegt. Während der Fahrt sagt sie nichts. Sie fahren auf einen Stau auf.
„Glaubst Du, wir schaffen’s?“
„Nein. Wahrscheinlich…“
„Dann ist das ein Zeichen. Vielleicht sollten wir umkehren.“
„Wir fahren da jetzt hin“ Krohn, panisch und sehr verwirrt, bemüht sich um eine energische Stimme. „Wir fahren da jetzt hin. Du bist nicht die Erste, die so etwas durchmacht.“
„Hm.“
Am Krankenhaus steigt sie aus und verschwindet im Eingang, er muss noch einen Parkplatz suchen. Mit ihrem Gepäck fragt er sich nach der Station durch, sieht sie schon im Wartebereich sitzen. Sie hockt auf der vorderen Kante eines weißen Plastikstuhl, beachtet die Zeitungen auf dem Tischchen vor sich nicht, lächelt schwach, als sie Hans Krohn sieht.
Er organisiert sich einen anderen weißen Stuhl, setzt sich dicht neben sie, ihre Hände finden sich.
Sie haben keine Wörter. Sitzen nur da und sind erschrocken.
Zwei Frauen mit Kopftüchern, gezeichnet von der Chemo, unterhalten sich und haben Spaß, sie kichern und berühren sich an den Armen. Jetzt werde bald Schluss sein mit der Kälte, sagt die Eine. Die Krokusse seien schon heraussen, gestern habe sie eine Runde im kleinen Park gedreht und sich ganz arg gefreut über die gelben Beete. Ja, meint die Andere, es sei immer wieder ein Erlebnis, wenn das Frühjahr komme.
Neben den Schnatterenten sitz ein altes Ehepaar. Beide sind sicher schon über 70, er war früher ein massiger Mann und wird nun vom Alter weg gezehrt. Sie ist apart, graue kurze Haare stehen ihr gut, kluge Augen kontrollieren den Raum. Eine sehr kleine Frau im eleganten Kostüm, die ihre OP-Papiere vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hat und die Unterlagen noch einmal studiert. Sie konzentriert sich aufs Lesen, nach einer Weile blickt sie zu ihrem Mann, der reglos auf sie aufpasst. Die alte Frau streicht ihm übers lichte weiße Haar und lächelt ihm Mut zu. Er versucht sich auch an einem guten Blick, schafft es nicht.
Eine alleinstehende Dame tippt etwas ins Handy. Ihr Gepäck ist von Louis Vuitton, das Makeup hat sie etwas zu dick aufgetragen.
Krankenschwestern huschen über den Gang, ein Arzt hat es eilig, die Putzfrau wischt behäbig übers Linoleum. Keiner hat einen Blick für die Kranken im Wartebereich.
Hans Krohn sieht zu Sabrina. Er möchte etwas sagen, eine Belanglosigkeit, etwas gegen das Schweigen. Er bleibt stumm.
Sabrinas Augen sind riesig. Der Blick irrt durch den Raum. Über die Wangen laufen kleine Tränen.
Lautlos weint sie. Wahrscheinlich hat sie nicht einmal mehr die Kraft wegzulaufen.
Sabrina ist wohl immer ein seltsamer Snob gewesen. Sie trägt verschlissene Pullover aus sündteurem Kaschmir, ihre Foto-Ausrüstung ist ein kleines Vermögen wert, sie trinkt nur ausgesuchten Champagner und fliegt nie Economy.
Hans Krohn hat das immer mit einem leichten Befremden zur Kenntnis genommen. Nun – in der Münchner Frauenklinik – ist er froh, dass Sabrina immer Höchstsätze in die private Krankenversicherung eingezahlt hat.
Sie hat es ihm mal zu erklären versucht: „Ich will nicht, dass es mit geht wie meiner Mutter. Die ist ins Krankenhaus zum Sterben – und dort in einem Mehrbettzimmer gelandet. Es war das pure Grauen. Da habe ich mir geschworen, dass mir so etwas nicht passiert.“
Jetzt bezieht sie ein Einzelzimmer. Blick auf den kleinen Park mit den Krokussen, einem Miniaturspielplatz, einer von Bänken gesäumten Wegrunde und mit einem Magnolienbaum vor dem Fenster. Ein schmuckloses Kreuz, ein großer und ein kleiner Fernsehapparat, das Krankenbett mit seinen Armaturen, ein Tisch, zwei Besucherstühle, ein blaues Blumenposter. Eigene Dusche, eigene Toilette.
Hans Krohn ist beeindruckt.
Sabrina sagt: „Naja, nicht mal Motel One ist es, aber was soll’s?“ Sie klebt ihre Fotos an die Möbel, er packt Sabrinas Sachen in den Kleiderschrank.
Vom Gang her kommen Geräusche. Menschen lachen und erzählen sich Dinge.
„Das ist aus der Patientenküche“, sagt er.
„Patientenküche! Sowas gibt es hier? Hört sich grausam an.“
„Naja, da treffen sich die Leute, dann vergeht die Zeit schneller.“
„Mich wirste da nicht sehen. Ich finde das alles ganz schrecklich hier.“
Es klopft. Eine rotwangige junge Schwester – später wird sich finden, dass sie aus dem Vinschgau kommt und so mit Sabrina viel über den Süden der Alpen zu besprechen hat – erklärt, in fünf Minuten würde sie Sabrina gerne zum Anästhesisten bringen. Dort werde man die letzten Vorbereitungen vor der Operation erledigen.
Wie lang das daure?
„Ach, da ist Ihre Frau sicher eineinhalb Stunden unterwegs.“
Dann werde er, sagt Krohn, einen Kaffee trinken gehen. „Ich habe das Handy dabei. Kannst mich immer anrufen.“
Sabrina hat zum ersten Mal an diesem Tag ein entspanntes Gesicht. Sie beginnt sich in alles zu fügen.
Gut so.
In der Cafeteria der Klinik sitzen außer Krohn ein Mann und eine Frau. Sie ist hübsch und streichelt dem Mann über die Haare. Er legt den Kopf auf ihre Brust, seine Schultern beben. Dann setzt er sich wieder gerade hin und wischt sich über die Augen. Sie sagt etwas, steht auf und verschwindet in der Klinik. Der Mann schaut noch lange zu der Tür, durch die sie verschwunden ist.
Hans ist irritiert, er glaubt den Mann zu kennen. Bestellt Kaffee und einen Käsekuchen, schlägt die Zeitung auf. Mal sehen, was sie im Fernsehen bringen, womit er sich abends vom Alleinsein ablenken könnte.
Der andere Gast schaut herüber, sein und Krohns Blicke kreuzen sich.
„Entschuldigen Sie“, sagt der Andere, „kann es sein, dass wir uns kennen?“
„Ja, ich glaube, ja. Vielleicht…“ Krohn redet nicht weiter.
„Ich weiß es jetzt. Schwanthalerstraße – das ist sicher schon zehn Jahre her.“
„Ja klar.“ Krohn lacht. „Dann sind wir per Du.“
„So isses. Ich bin Jeremy.“
„Hans. Freut mich.“
„Hans, soso. Und? Wie isses?“
„Wie? Achso. Trocken. Seit mehr als einem Jahr. Und Du?“
„Hab‘ nächste Woche zwölften Jahrestag.“
„Zwölf Jahre ohne? Wow! Gehste immer noch in die Gruppe.“
„Zweimal im Monat. Und Du? Bist ja eine Zeit bei uns gewesen. Und dann – auf den Schlag – warste weg.“
„Ja, bin nach Berlin gezogen. Hatte die Schnauze voll von der Stadt hier.“
„Und jetzt wieder da?“
„Ja. Alles gut, soweit. Scheisse nur, dass man sich hier wieder trifft.“
Kannste sagen. Ist ein beschissener Ort. Sorgen, nix als Sorgen.“
„Deine Frau?“
„Ja.“
„Schlimm?“
„Ja. Sehr.“