AUSVERKAUF
Startschuss: 17. August 2019, 6.00 Uhr. Zielschluss: 18. August 2019, 12.00 Uhr. Dazwischen: 160 Kilometer zu Fuß rund um Berlin. Das Event heißt “Mauerweglauf”. In “Vettensjournal” das Protokoll der Vorbereitung. Es beginnt am 9. März 2019 und endet am 17. August: 22 WOCHEN.
Das Einkaufen war anstrengend, Krohn braucht eine Pause. Er holt sich einen Kaffee, setzt sich mit dem Rücken zur Wand ins Bistro des Supermarkts. Die Jacke hat er über die Stuhllehne geworfen, die Ärmel des Pullovers hoch gekrempelt, trotzdem schwitzt er kalt. Ihm fehlt Luft wie nach einem Hundert-Meter-Lauf.
Verdrossen ist er, verdrossen und wütend. Kann sich nicht ausstehen, weil er nicht funktioniert. Der Katheter zwackt, sacht rumort ein Unwohl im Penis. Im Rücken drückt es, weil Krohn zu viel gelegen hat. Die Waden sind hart und verkatert. Fieber hat Krohn wohl auch, nicht schlimm, aber ihm ist ein bisschen schwindlig.
Er trinkt einen Schluck, das tut gut.
Um ihn herum geht alles seinen Gang.
Menschen kommen, kaufen und verlassen den Markt wieder. Sie sehen nicht nach links und nicht nach rechts. Lächeln nicht. Echte „Intelligenzen“ die wirken wie KI-Wesen. Selbst wenn sie telefonieren, sind sie fremdbestimmt.
Ein Typ im Blaumann hält sich nicht lange mit dem Vorspiel auf. Er hat ein kantiges Gesicht und einen Plan. Vorbei am Gemüse, an den Konserven, an den Süßwaren. Beim Fleischer kauft er eine Leberkäs-Semmel, marschiert zum Bier, lädt sieben Flaschen in den Wagen, tut die „Bild“ dazu – schon ist er an der Kasse. Zack, und wieder draußen.
Er hat die Alte überholt, die ihren Einkaufswagen durch die Reihen schiebt. Sie ist dick und hat einen riesigen Hintern. Die Beine: rote Säulen, die der Frau wohl große Schmerzen bereiten. Das Gehen ist ihr zumindest eine Qual. Lange bleibt sie vor den Regalen stehen, bevor sie kauft. Sie vergleicht Preise, stellt zu teure Waren zurück. Nudeln braucht sie und Saft, Tütensuppe, Gut-und-Billig-Käseaufschnitt. Die „Freizeit Revue“ legt sie in den Wagen, denkt nach und legt sie wieder zurück ins Regal. An der Kasse kramt sie nach den letzten Cents, sie mag Rausgeld nicht. Am Ausgang hat sie ihren Rollator geparkt, das Umpacken dauert lang und ist mühsam. Nun noch den Einkaufswagen zurück bringen – dann hat sie den Heimweg vor sich. Ein paar Blocks nur, aber es zieht sich.
Während Krohn der alten Frau zusieht, steigt Angst in ihm hoch.
Er beobachtet die anderen Menschen. Sie huschen durch den Markt. Sie hinken. Sie federn und sie schlurfen, sie haben Ziele oder wissen nicht, was sie tun. Sie wollen schnell wieder nach draußen. Sie sind sich selbst immer einen Schritt hinterher, haben Angst in den Augen, weil sie etwas falsch machen könnten. Erschrecken sehr, wenn sie etwas vergessen haben.
Die Frauen an der Kasse haben ihre Gesichter im Personalraum gelassen.
Kaum jemand sieht gesund aus.
Krohn schaut der Alten mit dem Rollator hinterher. Sehr langsam ist sie unterwegs, hat mit sich selbst zu reden begonnen. Gibt ja niemanden mehr, der ihr zuhören würde.
So erzählt sie sich selbst die Geschichte des Tages:
Wieder eine Aufgabe gelöst.
Wieder eine kleine Schlacht gewonnen.
Wieder das Sterben ein wenig hinaus gezögert.
Hand Krohn schluckt: Früher wären ihm solche Menschen nicht besonders aufgefallen. Jetzt fühlt er sich ihnen ganz nah.
Das ist nicht okay.