KOMA
“5.45” — Krohn wird umziehen. Weg aus der lauten Stadt. Weg in die Welt. In den letzten zwei Monaten sieht er sich noch einmal um. Lokaltermine, morgens um dreiviertel sechs in Berlin und im Brandenburgischen. Teil 5, Volkspark Wilmersdorf.
Mal schätzen:
400Mal ist Hans Krohn an diesen Bäumen vorbei gelaufen.
Volkspark Wilmersdorf, Höhe Prinzregentenstraße.
400Mal.
Eher öfter.
Er hat das alles hier nicht wahrgenommen. Es waren nur ein paar Meter der Trainingsrunde. Ein Ort ohne Besonderheiten.
Drei Bänke auf einer kaum merklichen Anhöhe. Die Wiese in einer Senke. Auf der anderen Seite der Hunde- und der Tennisplatz. Im Rücken Schrebergärten und Mietskasernen. Viele Rentner, die mit ihren Hunden nicht mehr zu weit gehen mögen.
Auf der Wiese Yoga-Jüngerinnen und Eltern mit ihren schreienden Kindern. Abends riecht es nach Grillgut. Wenn die Sonne scheint, kommen die Menschen mit ihren Badetüchern. Im Winter fährt man Schlitten.
Ein unscheinbarer Ort. Ohne Geschichte und ohne Geschichten.
Nicht mehr ganz.
Vor sieben Wochen ist hier ein Jogger getaumelt, gestürzt, liegen geblieben. Eine andere Läuferin sah den Mann auf dem Boden, wollte helfen, er reagierte nicht, atmete kaum, sie rief den Notarzt. Der Mann bekam eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht, er wurde auf eine Bahre gehievt und ins Krankenhaus gefahren. Dort schlossen sie ihn an medizinische Apparaturen an, intubierten ihn, legten Katheter.
Zuvor war der Mann entkleidet worden, man hatte ihm die Sportuhr abgenommen, man hatte nach Papieren gesucht, nur zwei Schlüssel gefunden.
Die Polizei kam. Die Beamten versuchten herauszufinden, wer der Mann war.
Nichts. Kein Indiz, das weiter führte. Die Fingerabdrücke waren nicht im System, die DNA auch nicht. Anwohner kannten den Jogger, mit dessen Foto die Polizisten auf die Suche gingen, nicht. Eine Kioskbetreiberin meinte, sich erinnern zu können, dass sie ihn schon mal gesehen hatte.
Mehr nicht.
Es war einmal ein Mann ohne Eigenschaften. Er hatte einen sitzenden stillen Beruf – eine Arbeit, bei der man sich die Hände nicht schmutzig macht, die Haut bleibt zart, die Fingernägel sind gepflegt und sauber.
Der Mann hatte das Geld, sich teure Sportsachen zu leisten. Er kaufte fürs Joggen sogar eine Uhr, die alles festhielt, jeden Schritt, jeden Meter, alle Zeiten, den Herzschlag.
Der Mann lebte gesund. Er trank nicht übermäßig, er rauchte nicht. Regelmäßig trieb er Sport, war schlank für seine 55, 60 Jahre. Er rasierte sich jeden Tag, er war ein reinlicher Mensch.
Der Mann begann an jenem Morgen um 12 vor acht zu joggen. Schnell war er nicht, mit seinem Tempo hätte er für den Marathon sechs Stunden gebraucht.
Es war kühl. Also trug er eine Windjacke und eine dunkle Jogginghose. Die Schuhe waren blau und von Adidas.
Die Schlüssel zur Wohnung und zum Haus steckte er in die Jackentasche. Dann lief er los.
13 Minuten war er unterwegs gewesen, als er die Baumgruppe an der Prinzregentenstraße erreichte. Um diese Zeit war dort niemand – keiner, der seinen Hund ausführte, kein Yoga-Treibender, kein Läufer.
Er lief diese sachte Steigung hoch und stürzte.
Nun liegt er in der Klinik und gehört niemandem. Verwandte oder Bekannte haben sich nicht gemeldet. Es gibt keine Vermisstenanfrage, die passen würde. Die Polizei hat ein Foto in den Zeitungen veröffentlichen lassen – keine Reaktionen.
Er liegt an den Schläuchen, wird rasiert, gewindelt und gedreht. Die Zunge hängt ein bisschen aus dem Mund. Der Mann liegt da und sieht aus wie einer, der seinen Rausch ausschläft.
Das war’s.
Hans Krohn blickt über die Wiese, an der es passiert ist. Auf der anderen Seite des Parks kläffen die Hunde. Das Ploppen von Tennisbällen ist zu hören – echt, da spielen sie schon um dreiviertel sechs, das sind sicher die Rentner, die es immer eilig haben. Einer geht mit seiner Aktentasche durch den Park, der muss aber früh ins Büro. Zwei Kaninchen tun sich wichtig.
Alles geht seinen Gang.