DAS SCHLOSS

“5.45”   —   Krohn wird umziehen. Weg aus der lauten Stadt. Weg in die Welt. In den letzten zwei Monaten sieht er sich noch einmal um. Lokaltermine, morgens um dreiviertel sechs in Berlin und im Brandenburgischen. Teil 4, am Rheinsberger Schloss.

 

Ist nicht lange her, dass sie das Schloss von Rheinsberg in die Maske gesteckt haben. Seither schimmert die Fassade wie neu. Der Rasen davor ist getrimmt und hat den Regen der vergangenen Nacht aufgesogen wie ein Schwamm. Nun wird es auch bald wieder richtig grün sein in den Anlagen, die Blumen werden sich aufrichten. Das wird schmuck, hurrah!

Der See blinkt, vier graue Jungschwäne lassen sich treiben, gelassen und wehrhaft sehen sie aus.

Eine schöne Stimmung ist das – die Touristen sind noch nicht da, Krohn hat den Park für sich. Er setzt sich auf eine Bank und kratzt an seinen Schienbeinen herum. Verflixte Mücken, sogar die Kniekehlen sind zerstochen.

Ärgerlich. Aber außer dem Jucken ist Hans Krohn ungetrübter Stimmung. Er blickt zum Schloss und erinnert sich. Hierher ist er in dem vermaledeiten Sommer zwanzichfuffzehn immer gekommen, wenn er meinte, es ginge nicht mehr.

Er hat Opern gesehen und Theaterstücke. Konzerte in lauen Nächten. Vor den Veranstaltungen hat er sich mit Bier locker gemacht, in den Pausen trank er Sekt, nach dem Schlussapplaus gab es noch einen Wein in der Zivilisation. Dann schulterte er den Rucksack und wanderte durch den Wald, den weiten Weg in das Haus am See. Für den Marsch hatte er eingekauft – und so kam er sehr betrunken am nächsten Morgen an. Brauchte einen Tag zum Ausnüchtern – und hatte dann große Wehmut nach Menschen.

 

Der Ausflug in die Kultur tat ihm nicht gut. Er sah dann den Krohn, der er geworden war:

Ein Mann, der nichts zu sagen hatte. Einer, der auch noch nach Wald und Holz und Schweiß roch, nachdem er geduscht und sich parfümiert hatte. Einer, dem die letzte gute Hose zu weit geworden war und dessen Sakko an den Ellbogen vor Abgewetztheit schimmerte.

Ein Mann, dessen Augenlider nervös flatterten, wenn er angesprochen wurde. Er schwitzte schnell. Nicht mehr geübt im Reden war er. Er sprach zu schnell und unüberlegt, er wollte zuviel erzählen. Es brach aus ihm heraus, das alles.

Das Alleinsein. Das Trinken. Der Unfriede mit sich selbst.

Er saß im Publikum und hatte Tränen in den Augen, wenn Chopin gespielt wurde, er schniefte bei Beethoven, bei Mozart, bei Bach. Das ging ihm so nah, aber er entfernte sich immer weiter davon.

Kein Weg zurück ins Normale, so schien es.

Das hatte er so nicht gewollt.

 

Die Ausflüge in die Kultur waren herrlich. Er traf einen japanischen Pianisten, der ihm erklärte, warum Chopin der Größte sei. Er geriet in eine Gesellschaft, die ihn in den Wagen packte. Man landete in einem großen Anwesen und soff, wie es die Russen tun. Er tauschte die Handynummer mit einem schwulen Bildhauer aus Bernau, der von so ausgesuchten Manieren war, dass man sich in einem früheren Jahrhundert fühlte.

Und dann die Sopranistin aus Prag. Sie hatte grüne Augen und war sehr blond. Traurig war sie, von einer erotischen Melancholie.

Und Vollmond war obendrein.

Er hielt ihre Hand und dachte, vielleicht würde doch alles wieder gut.

Wurde es aber nicht.

Am nächsten Tag war sie weg. Und Hans Krohn hackte Holz.

 

Lang her.

Jetzt hat er Cola getrunken, die Stiche jucken, der Kopf ist frei.

Hans Krohn sieht zur Schlossfassade, die von innen zu glimmen scheint.

Die Schwäne. Schwalben jagen über den See. Blau der Himmel, doch im Westen baut sich schon die nächste dunkle Wand auf. Eine Libelle landet neben Krohn auf der Bank. Sie hat einen türkisfarbenen Leib, der auf und ab pumpt. Die Flügel sind seitlich ausgestellt, zittern leise, von haarfeinen Gitterchen sind sie durchzogen.

Ohne Anstalten hebt die Libelle ab und schwenkt in Richtung See.

Versonnen sitzt Hans Krohn da. Geil, wenn man sich so an der Natur besaufen kann.