TOD IM APRIL, TEIL III

berlin, 18. april 2015

Die Schlagzeile des Tages in der Welt: “Gastarbeiter werden knapp”. Conny mit “Zwei kleine Italiener” weiter auf Rang 1 der Charts. Das “Neue Deutschland” urteilt über die Verdi-Premiere des “Maskenballs” an der Staatsoper: “Eine glanzvolle, zutiefst werkgerechte musikalische Ausführung”. Das Wetter an diesem 18. April 1962: Bei mäßigen Winden um Südost wolkig, nur vereinzelt etwas Regen. Höchsttemperaturen um 15 Grad, ostwärts der Elbe bis nahe 20 Grad ansteigend. Tiefste Nachttemperaturen 5 bis 8 Grad. Sonnenaufgang 5.03 Uhr. Ein Sonnenaufgang, den Jörgen Schmidtchen, Klaus Brueske und Peter Böhme nicht mehr sehen. Um diese Zeit werden ihre Leichen in die Pathologie gebracht.

“Tod im April”, Teil III im “Journal”.

Es ist dunkel geworden. Peter und Wolfgang haben sich den Tag über in Potsdam versteckt, nun nehmen sie ein Taxi nach Babelsberg und gehen den Rest des Wegs zum Gleisdreieck zu Fuß. Ist nicht mehr weit, sie lassen sich Zeit. Geredet wird kaum noch, man ist schließlich im Feindesland. Sie stolpern über aufgelassene Gleise (früher gab es hier eine Verbindung von Potsdam nach Berlin, jetzt führt kein Weg von Ost nach West). Sie sind zu laut. Aber jetzt kann man nichts mehr ändern, nun müssen sie weiter.

Die Pistolen, die sie in der Kaserne geklaut haben, haben sie aus den Rucksäcken geholt.

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Zwei Leben, ein paar rote Linien, zwei Tote.

 

Der Grenzer Jörgen Schmidtchen hört Geräusche. Er glaubt, dass da Kameraden durch die Dunkelheit tapern. Geht aus seinem Unterstand in Richtung der “Kollegen”.

Fehler!

Später urteilt der zuständige Kommandeur: “Trotz der gründlichen Einweisung der Grenzposten über die Lage, insbesondere über die Fahndungsmaßnahmen und den Waffenbesitz der Fahnenflüchtigen, entsprachen die Handlungen des Postens nicht in jedem Fall der gegebenen Situation. Das beweist seine offene Annäherung an die angenommene Kontrollstreife.”

Die “Kontrollstreife” – es ist Peter Böhme – eröffnet das Feuer. Jörgen Schmidtchen wird getroffen und stirbt sofort. Sein Streifen-Partner feuert immer wieder in die Dunkelheit. Er trifft Böhme. Der fällt um, bleibt liegen, rührt sich nicht mehr.

Sein Freund Wolfgang entkommt.

Am nächsten Tag erklärt Wolfgang in der “Bild”: “Es war schrecklich. Aber es gab für uns keine andere Entscheidung. Wir oder sie.”

Fast zur selben Stunde, als Peter Böhme und Jörgen Schmidtchen am Gleisdreieck Griebnitzsee sterben, rast ein Lkw auf der Heinrich-Heine-Straße durch die Grenzsperren. Der Wagen ist mit Sand und Kies beladen, er ist mit 70 Sachen unterwegs. Drei Insassen (sie sind ein wenig angeschickert, haben sich Mut angetrunken) sind an Bord – eigentlich wollten sie zu siebt fliehen, doch vier Freunde haben im letzten Augenblick kalte Füße bekommen.

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Tod auf den Gleisen, anderer Blickwinkel.

 

Mit 70 durch die Schlagbäume. Die DDR-Grenzer schießen 14 Mal. Das Auto bricht aus. Es schlingert, ist viel zu schnell. Kommt von der Straße ab, rast gegen eine Mauer. Der Sand von der Ladefläche wird nach vorn geschleudert.

Stille auf der Straße.

Die Flüchtlinge sind verletzt. Von Schüssen getroffen. Knochen gebrochen. Zwei kommen ins Urban-Krankenhaus, der dritte stirbt. Es ist Klaus Brueske, der Fahrer. Erstickt. Begraben unter dem Sand von der Ladepritsche.

In der “Bild” wird am nächsten Tag stehen: “Sterbend fuhr er sie in die Freiheit”. Das “Neue Deutschland” meldet: “Am 18. April 1962 wurde ein gewisser Klaus Brueske beim gewaltsamen Grenzdurchbruch, wobei er das Leben von von Angehörigen der Grenzsicherungsorgane aufs äußerste gefährdete, erschossen.”

Klaus Brueske und Peter Böhme werden still und schnell begraben, ihre Familien dürfen nicht zur Beerdigung. Jörgen Schmidtchen wird in Schönefeld mit militärischen Ehren beigesetzt. Sein Tod macht für die staatlichen Vordenker durchaus einen bitteren Sinn: “Alle Genossen eifern Dir nach. An Deinem Beispiel werden viele Genossen zu Tapferkeit und Heldenmut erzogen.”

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Also hatte der 18. April 1962 dann doch eine große Bedeutung.