Wundervolle, wilde, weite Welt

berlin, 1. januar –  Und sie leuchtet doch! Kulturnostalgiker lamentieren zwar, in der Friedrichstraße habe früher der Bär gesteppt, der Fallada gesoffen und der Kirchner gepinselt – aber heute sei die Gegend nurmehr ein lahmer Laufsteg für trottelige Touri-Zombies. Sollen sie jammern, die Gestrigen. Viel spannender freilich ist es, zu erleben, wie die Friedrichstraße und die Welt drumrum locken, leiden, leben – und dass der Bär auch heute steppt, bis die Tatzen brennen.

 

Im Dezember 2014 fliegt an einem Samstagmorgen gegen halb acht ein kiezbekannter Raufbold, gebürtiger Nigerianer, hochkant aus der „Bülowkneipe“. Er tut sich trotz seiner spektakulären Bruchlandung auf dem Schöneberger Trottoir nicht sonderlich weh – das ist das Glück der Betrunkenen.

Der Mann – besudelter Anzug, bisschen Blut auf der Stirn – rappelt sich hoch, überlegt. Soll er noch mal in die Kneipe? Dort drinnen geht es an diesem Morgen hoch her, und ein paar Frauen sind obendrein aus der Nacht übrig geblieben.

Ach was!

„Scheiß-Rassisten!“ brummt der schwarze Mann.

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Die Berliner tun alles, auf dass ihnen ein Licht aufgehe… FOTOS: BARBARA VOLKMER

Und ruft ein Taxi.

Drinnen feiern sie den Rausschmeißer.

„Ach wat!“, erklärt der Typ, der den zänkischen Gast auf die Straße komplimentiert hat. „War echt an der Zeit. Wär’ der kein Neger, dann hätte er sich hier nich so lange gehalten.“

So redet man in Schöneberg, wenn man unter sich ist. Zum Teufel dann mit den politischen Korrektheiten, zum Teufel mit allen neuen Vokabeln, die es vielleicht mal zum „Wort des Jahres“ schaffen könnten.

Menschen wie der Regierungssprecher Steffen Seibert würden in der Welt der wahren Wörter nicht lange drauf warten müssen, von einem kernigen Trinker mit Durchblick auf die Straße gesetzt zu werden. Der frühere Journalist ist einer der Protagonisten, die sich um die Verschleierung beim Sprechen verdient machen. Über seine Chefin schwärmt er: „Eine Bundeskanzlerin steht mit einem Bein in der Weltpolitik und befasst sich mit Ukraine-Krise, Chinas Wirtschaftsentwicklung und NSA-Überwachung; mit dem anderen Bein steht sie in der Innenpolitik und kümmert sich um Bafög, Biogas-Subventionen oder Haushaltsfragen.“

Wohl gesprochen, weißer Ritter aus dem Kanzleramt. Geht noch mehr?

Klar! Herr Seibert kann auch Sätze wie folgenden:

„Die Bundeskanzlerin weiß aus Erfahrung, dass die Zahlen von morgen nicht die Zahlen von heute sein müssen.“

So reden sie, so schreiben sie, so werben sie. Wort-Führer wie Steffen Seibert schwärmen von den Tugenden des klassischen Journalismus und werfen dann im Akkord Nebelkerzen und die Leute.

Denn, mal ehrlich: Wo isser denn, der klassische Journalismus?

Wenn wir nicht aufpassen, dann bleibt er gerade auf der Strecke.

Geben wir’s doch einmal auf Google ein: Klassischer Journalismus. Dann erfahren wir unter anderem Folgendes:

„Web 2.0 vs. klassischer Journalismus – Wer ist der Gewinner?“ Und weiter: „Im Grunde genommen, sind die Bürger selbst fast als Journalisten im Netz tätig, übernehmen in ähnlicher Weise die Aufgabe der unabhängigen Meinungsbildung der klassischen Journalisten. Eins zu null für das Web 2.0.“

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Keine tierische Inszenierung, vor der man zurück schrecken würde…

 

Deutschlandradio Kultur wähnt den „Klassischen Journalismus unter Druck“ und erklärt: „Der neue große Trend im Internet sind Angebote wie ,Upworthy’, ,Buzzfeed’ oder ,Elite Daily’. Auf diesen Plattformen werden journalistische Informationen und die wichtigsten News aus den sozialen Netzwerken aggregiert und für den User aufbereitet.

Das Geschäft boomt. Die Nutzerzahlen explodieren und stellen herkömmliche Nachrichtenwebsites längst in den Schatten. Auch ein anderer Newsaggregator sorgt für Aufregung: Hinter ,Yahoo News Digest Konzept’ steht eine App mit folgendem Konzept: Zweimal am Tag erhält man eine Zusammenfassung der wichtigsten Nachrichten, verbunden mit vertiefenden Links, Bildern und langen Artikeln, die man später lesen kann.“

Stefan Schmitt macht sich auf „Zeit online“ unkontrolliert Gedanken über neue „Worte“ (er meint „Wörter“, macht aber nix). Unter anderem fällt ihm dazu ein: „Der Wortistik-Blogger der taz, Detlef Gürtler, erfand eine neudeutsche Bezeichnung für ein getwittertes Bonmot, das Bontuit. Besonders hübsch daran ist, dass der hässliche Wortbestandteil angelsächsischen Ursprungs dabei verlautschriftlicht wurde (Tweet zu Tuit). Ein französischer Anteil blieb hingegen erhalten (wohl alleine schon um die unaussprechliche Kompletteindeutschung Guttuit zu vermeiden).

Darüber hinaus hat dieser Neologismus die elegante Eigenschaft, als Bezeichnung passender zu sein als sein Vorbild: Zwar setzt Twitter mit 140 Zeichen pro Nachricht einen engen Rahmen. Aber der genügt kultivierten Digitalflaneuren, um ihre Geistesblitze in ein paar Worte zu fassen. Anders gesagt: Ein Bonmot ist meist keines, ein Bontuit hingegen ist sicher einer.“

Achso?

Naja, Goethe hätte vielleicht ob dieser Klein-Suada gemeint: Getret’ner Quark, wird breit, nicht stark.

Bontuits. Apps. Seibert’scher Worthülsen-Müll.

Fein! Das war’s dann mit den spannenden Geschichten aus der wundervollen, wilden, weiten Welt?

Quatsch! jaulen die Anhänger des klassischen Journalismus auf. Das kann es doch nicht gewesen sein.

Und sie wehren sich nach Kräften. Doch oft gehen ihnen die Kräfte aus, immer wieder brettern sie mit Karacho gegen die Wand.

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Geschlossene Veranstaltungen zuhauf. Ostberliner suchen nach Erleuchtung im Neuen Jahr.

 

Klassischer Journalismus gefällig? Ja schon, sagen die Entscheider – und verlieren auch gleich jedes weitere Interesse.

Aber warum, bitteschön, jammern?

Das ganze Lamentieren hilft ja doch nichts. Denn – wie der Fußballtrainer Stepanovic mal erkannt hat – „Läbbe geht weiter!“ Und weil es ist, wie es ist, das Leben, bleibt es auch weiterhin erzählenswert.

Denn es schreibt noch immer die schönsten Geschichten.

Hat das nicht schon mal einer gesagt?