WIESN VI

scheisszeitenwende 15

Zuerst kommt Müller, Rainer, abhanden. Er geht auf dem Rückweg vom Pissoir im Getümmel verloren. Zwei Stunden nach dem Anstich der ersten Wiesn-Maß ist er ein Opfer seines Rauschs. Sein Kopf wirbelt. Das war zuviel – die Sauferei am Vorabend, das heftige Trinken im Zug, die Schnäpse und das erste Bier.

Die Freunde hatten noch gewarnt, Rainer solle nicht so schnell machen. Als sie ihre zweite Maß bestellten, ging Rainer schon der dritten auf den Grund. „Gib net soviel Gas“, sagte Ernst. „Der Tag ist lang.“ „Prost“ sagte weitershin der Franz und schaute dem Kumpel hämisch zu, wie er unbeirrt Gas gab. Der Rainer war zwar als professioneller Säufer bekannt – aber dieses Tempo würde keiner durchhalten. Da würde man noch ein schönes Spektakel erleben, das würde ein mordialischer Absturz. Franz hatte eine Vorfreude darauf.

„Bieseln muss ich. Lasst’s mi!“

Rainer bahnte sich den Weg durch das Gewoge. In seinem Kopf ging es wild rundumundum.

Tsching! Fetz! Schmetter! Dröhn! Klawong! Schepper! Klirr! Stöhn! Lach! Gröhl! Brüll! Schrei! Boom! Bumm! Bamm! Bimm! Bemm! Bomm!

Im Urinal muss sich Franz beim Strullen an der Wand vor sich einstemmen, so recht sicher ist er nicht auf den Beinen. Das Wasserlassen juckt aufs Allerschönste, Franz grunzt vor Genuss.

Fertig. Abschütteln. Hosenlatz zu. Händewaschen braucht keiner – man ist ja nicht schwul.

Rainer Müller hat keine Eile. Gemächlich lässt er sich aus der Herrentoilette schieben, vorne geht es nicht weiter, von hinten drücken sie nach, sie wollen wieder ins Zelt. Aber hier kann man nichts erzwingen, man braucht Geduld.

Das Gedränge stört den Müller Rainer nicht. Als er ins Freie kommt, zwickt er die Augen zu und lächelt vor lauter Glück. Es tut gut, dass hier alle sind wie er.

Müller macht was her. Ein großer Mann, der schon mal den Kopf einziehen muss, weil ihm die Tür zu niedrig ist. Ein breites Kreuz hat er und aststarke Arme mit pulsierenden Adern. Weil Rainer noch jung ist, sieht man seinem Körper die Saufereien nicht an. In den letzten Monaten hat er oft draußen gearbeitet – er ist braun gebrannt, sieht verwegen wehrhaft aus mit seinem Dreitagebart, den blitzgrünen Augen, den schulterlangen blonden von der Sonne gebleichten Haaren. So einem Hünen macht eine Schubserei im Pissoir nichts aus.

Er weiß selbst, dass er in Zeitlupe denkt. Das ist schon immer so gewesen. Manche, die ihn nicht näher kennen, sagen, dieser Rainer Müller sehe fesch aus, aber er sei wohl ein wenig beschränkt.

Dass sie sich da mal nicht brennen!

Es braucht halt bei Rainer seine Zeit, wenn er denkt. Dann wägt er alles nach bestem Wissen ab – das rattert dann ganz schön in seinem Schädel. Er ist da wie ein Maultier: Solange sich so ein Viech der Sache nicht sicher ist, rührt es sich nicht vom Fleck. Wenn es sich aber entschieden hat, marschiert es vorwärts und lässt sich nicht aufhalten.

So macht Rainer Müller es auch.

Es verdrießt ihn, dass ihn die Leute wegen seiner Art belächeln. Er wäre gern flotter. Würde gern mehr und schneller reden. Hätte gern den rechten Spruch für die Weiber.

Hätte, hätte, Fahrradkette!

Der Müller Rainer wird es wohl nie auf die Reihe bekommen. Weil er das spürt, weil es ihm stinkt, weil er nicht dran denken mag, macht er sich dicht.

So ist das – es macht ihn zum Gesetzlosen, dieses Trinken. Er kann ihnen ja nicht seine Hilflosigkeit erklären – das macht ein Mann nicht.

Hier aber, auf der Wiesn, muss Rainer Müller keinem erklären, warum er so ist. Die Leut‘ ballern sich mehr zu, als er das normalerweise tun würde – und sie singen laute falsche Lieder dazu.

Hier ist alles sehr vertraut für Rainer Müller.

Tsching! Fetz! Schmetter! Dröhn! Klawong! Schepper! Klirr! Stöhn! Lach! Gröhl! Brüll! Schrei! Boom! Bumm! Bamm! Bimm! Bemm! Bomm!

Auwehzwick.

Jetzt hat er wohl ein kleines Problem.

Rainer Müller dreht sich um sich selbst, er sieht das Feiern und die endlosen Bänke im Zelt, er schaut in Frauenbrüste und auf ein Wogen. Obacht! ruft es, das ist eine Bedienung mit ganz vielen Krügen im Arm. Er staunt. Ob er, der starke Rainer, soviel stemmen könnte, den ganzen Tag lang?

Wurscht.

Egal.

Er weiß nicht, wo er ist.

Hat er nicht mit seinen zwei Freunden draußen gesessen?

Ist draußen nicht woanders als hier?

Ja, genau.

Rainer Müller schlingert nach draußen.

Frische Luft. Das macht den Rausch noch stürmischer.

Draußen.

Dann wird er halt nach links…

Und so kommt Müller, Rainer, abhanden. Fürs Erste.